(Interview geführt am 19. Mai 2020)
REWI: Gelten in Zeiten der COVID-19-Pandemie für Strafverfahren in Österreich andere Regeln als sonst?
Sebastian Gölly: Die Strafprozessordnung selbst wurde nur punktuell verändert. Im Wesentlichen wurden bislang noch nicht bestehende Möglichkeiten geschaffen, in Untersuchungshaft angehaltene Beschuldigte bzw. Angeklagte während einer Pandemie oder Epidemie nicht persönlich zu Verhandlungen im Ermittlungs-, Haupt- und Rechtsmittelverfahren vorzuführen, sondern sie nur per Videokonferenz zuzuschalten. Dazu und insbesondere auch zur Vereinbarkeit dieser Maßnahmen mit rechtsstaatlichen Grundsätzen hat Prof. Thomas Mühlbacher bereits vor einigen Tagen an dieser Stelle näher berichtet.
Daneben wurde aber insbesondere durch Verordnungen der Bundesministerin für Justiz, die sich vor allem auch auf das sog. 1. COVID-19-Justiz-Begleitgesetz (BGBl. I 2020/16 i.d.g.F.) stützten, doch recht tiefgehend in den Strafjustizbetrieb eingegriffen. So wurden etwa Fristunterbrechungen angeordnet, der Besuchsverkehr für in Untersuchungshaft Angehaltene (und im Übrigen auch für Strafgefangene) auf telefonische Kontakte eingeschränkt, die Möglichkeit geschaffen, im Einzelfall statt der Durchführung einer mündlichen Haftverhandlung schriftlich über Fortsetzung oder Aufhebung der Untersuchungshaft zu entscheiden, etc. Vor allem aber wurde der Parteienverkehr bzw. insgesamt der Strafjustizbetrieb ganz massiv eingeschränkt. So fanden in den letzten Wochen und Monaten etwa praktisch nur in jenen Verfahren Hauptverhandlungen statt, in denen Beschuldigte bzw. Angeklagte in Untersuchungshaft angehalten werden. Damit kam es in der ganz überwiegenden Zahl zumindest der Hauptverfahren de facto wohl zu einem weitgehenden „Stillstand“, wie auch das Justizministerium einräumte. Dieser weitreichende Stillstand und die damit unweigerlich verbundenen Verfahrensverzögerungen stellen wahrscheinlich den größten Unterschied zum sonst in Österreich gewohnten Strafjustizbetrieb dar, der durch eine im internationalen Vergleich relativ kurze durchschnittliche Verfahrensdauer geprägt ist.
REWI: Sind mit diesen Sondermaßnahmen nicht gewisse Eingriffe in rechtsstaatliche Grundsätze verbunden?
Sebastian Gölly: Die aktuellen COVID-19-Sonderregelungen für den Strafjustizbetrieb stehen zweifellos in einem Spannungsverhältnis zu zahlreichen Grundrechten und Verfahrensgrundsätzen – etwa dem Recht auf ein faires Verfahren, auf den gesetzlichen Richter, auf Verteidigung oder auch den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit, Mündlichkeit, Unmittelbarkeit und Öffentlichkeit sowie dem Beschleunigungsgebot. Man denke nur an die teils wohl beträchtlichen Verfahrensverzögerungen, gerade auch angesichts des zu erwartenden „Rückstaus“ bei der Abarbeitung weitgehend stillgestandener bzw. stillstehender Verfahren. Oder an mögliche Schwierigkeiten, die in Untersuchungshaft befindliche Beschuldigte und Angeklagte bei der Wahrnehmung ihrer Rechte haben können, wenn sie nicht im Saal anwesend sein dürfen, sondern nur mittels Videokonferenz an der Verhandlung teilnehmen können; auch in einem solchen Fall muss eine ungestörte und für die anderen Anwesenden nicht wahrnehmbare Beratung mit der Verteidigerin oder dem Verteidiger möglich sein. Auf der anderen Seite sollen diese Maßnahmen der Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 dienen – und damit dem Schutz der (öffentlichen) Gesundheit und dem Recht auf Leben. Das ist wohl zweifellos auch ein berechtigtes Interesse, hier muss also abgewogen werden.
Mittlerweile wurde die Situation aber wieder zumindest etwas „entschärft“: Erste Sonderregelungen, zum Beispiel die Fristunterbrechungen, wurden wieder aufgehoben. Auch Besuche in den Justizanstalten wurden – wenngleich mit gewissen Personenzahl-Beschränkungen – wieder möglich. Und aus der juristischen Praxis hört man, dass langsam auch wieder Hauptverhandlungen – wenngleich unter Einhaltung besonderer Sicherheitsvorkehrungen – stattfinden.
REWI: Waren diese COVID-19-Maßnahmen angesichts dieser Grundrechtseingriffe denn tatsächlich notwendig?
Sebastian Gölly: Eine Redensart besagt, außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Nach allem was wir bisher über COVID-19 wissen und an tragischen Entwicklungen in anderen Staaten beobachten mussten, stellt diese Pandemie sicherlich eine außergewöhnliche Situation dar. Das Strafverfahrensrecht abseits der aktuellen COVID-19-Sonderregelungen eröffnet nur beschränkte „Spielräume“, die nun genutzt werden können, um die Ansteckungsgefahr zu verringern. So war etwa eine Reduktion persönlicher Kontakte im Zuge des Strafverfahrens durch den Einsatz von Videokonferenztechnik bislang nur in deutlich geringerem Umfang möglich. Da bieten die aktuellen Sonderregelungen sicher deutlich effektivere Möglichkeiten zur Reduktion der Ansteckungsgefahr mit COVID-19, gerade auch die weitreichenden Einschränkungen des Justizbetriebs. Insofern lagen derartige außergewöhnliche Maßnahmen wohl nahe. Gerade in einem so grundrechtssensiblen Bereich wie dem des Strafrechts können wir uns aber nicht auf ein Sprichwort verlassen und pauschal sagen: „Das wird schon alles passen, die außergewöhnlichen Zeiten erfordern das.“ In einem Rechtsstaat müssen Grundrechte und Verfahrensgrundsätze selbst in Krisenzeiten eingehalten werden.
Es lässt sich auch – auf Gesetzes- wie auf Verordnungsebene – immer wieder das in den Gesetzesmaterialien betonte Bemühen erkennen, nur möglichst wenig in diesen grundrechtsensiblen Bereich einzugreifen. So wurden etwa Verordnungsermächtigungen teils nicht ausgeschöpft oder die Verordnungen sowie die ihnen zugrundeliegenden Ermächtigungen teilweise wieder zurückgenommen oder eingeschränkt.
Ob diese außergewöhnlichen Maßnahmen „erforderlich“ und die damit verbundenen Grundrechtseingriffe verhältnismäßig waren bzw. ob in den derzeit anhängigen Strafverfahren sämtliche Grundrechte und Strafverfahrensgrundsätze gewahrt bleiben, wird nun aber auch ganz zentral davon abhängen, wie lange diese teils durchaus eingriffsintensiven Maßnahmen noch andauern – und vor allem auch davon, wie die Praxis in jedem Einzelfall von diesen Gebrauch macht…
REWI: Also kommt es auch ganz wesentlich darauf an, wie die Rechtsanwender mit diesen Sonderregelungen umgehen?
Sebastian Gölly: Genau. Vor allem die Staatsanwaltschaften und Gerichte trifft – nun in Zeiten der Krise wohl sogar noch etwas mehr als sonst – eine besondere Verantwortung, innerhalb der gesetzlichen Grenzen sowie ihrer personellen und sonstigen (faktischen) Möglichkeiten die Verfahren so fortzuführen, dass in die Rechte aller Beteiligten, also insbesondere der Beschuldigten bzw. Angeklagten und der Opfer, so wenig als irgend möglich eingegriffen wird. Dabei ist zu beachten, dass auch die meisten COVID-19-Sonderregelungen für den Strafjustizbetrieb nur neue verfahrensrechtliche Spielräume schaffen. Ob diese im Einzelfall „ausgenutzt“ werden sollen oder dürfen, ist stets genau zu prüfen und ein möglicher Eingriff in Grundrechte und Verfahrensgrundsätze streng gegenüber dem Nutzen, den man sich dadurch verspricht, abzuwägen. Unter Bedachtnahme vor allem auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip, das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK), das Beschleunigungsgebot sowie die übrigen leitenden Verfahrensgrundsätze und (Prozess‑)Grundrechte wird also in jedem Einzelfall streng zu prüfen sein, ob die Anwendung der Sonderregelungen jeweils einen so viel besseren Gesundheitsschutz bietet, dass die in concreto damit verbundenen Grundrechtseingriffe aufgewogen werden. Da sich unsere Strafverfolgungsbehörden ihrer verantwortungsvollen Aufgabe aber erfahrungsgemäß bewusst sind, besteht wohl eine berechtigte Hoffnung, dass dies regelmäßig gut gelingen kann und wird.