(Interview geführt am 5. Mai 2020)
REWI: Was macht die Staatsanwaltschaft in Zeiten von Corona?
Thomas Mühlbacher: Im Grunde das, was sie immer macht. Sie bemüht sich um Verfahren von hoher rechtsstaatlicher Qualität. Aber wir mussten natürlich Abläufe umstellen.
REWI: Sind Verhandlungen, bei denen der Angeklagte nicht persönlich, sondern nur über Videokonferenz anwesend ist, mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbar?
Thomas Mühlbacher: Die zentrale Bestimmung für die Vernehmung des Angeklagten in Haftsachen durch Videokonferenz ist § 174 Abs. 1 zweiter Satz StPO idF BGBl. I Nr. 16/2020. Ebenso wie § 4 der Verordnung der Bundesministerin für Justiz, mit der zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 besondere Vorkehrungen in Strafsachen getroffen werden (BGBl. II 113/2020), erlaubt sie dem Gericht, die Vernehmung oder Verhandlung unter Verwendung technischer Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung durchzuführen. Das Gericht ist aber keineswegs dazu verpflichtet.
Die Beantwortung der Frage, ob im Einzelfall von der Möglichkeit der Vernehmung des in Haft befindlichen Angeklagten mittels einer Videokonferenz Gebrauch gemacht werden kann, bedarf einer Abwägung im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes des § 5 Abs. 1 zweiter Satz StPO. Eine Beeinträchtigung des Grundsatzes des fairen Verfahrens nach Art. 6 Abs. 1 EMRK und des Rechts auf Verteidigung nach Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK muss also in einem angemessenen Verhältnis zur aktuellen Gefährdungslage stehen.
Das Gericht wird daher in seine Entscheidung etwa einzubeziehen haben, ob ausreichend große Verhandlungsräume zur Verfügung stehen, die die Einhaltung des gebotenen Sicherheitsabstandes ermöglichen, was gerade bei mehreren Angeklagten zum Problem werden kann, und/oder ob andere Schutzvorrichtungen zur Verfügung stehen, die nicht ihrerseits die Entscheidungsfindung erschweren, indem sie etwa einen Teil des Gesichts bedecken und damit für die Beweiswürdigung wesentliche nonverbale Teile der Aussage verbergen.
Andererseits macht es einen Unterschied, ob es sich um ein Verfahren vor dem Einzelrichter gegen einen geständigen Angeklagten oder um einen Indizienprozess vor einem Geschworenen- oder Schöffengericht handelt. In Verfahren mit Laienbeteiligung sind aufgrund der dort gegebenen Entscheidungsfindungsprozesse Eingriffe in den Unmittelbarkeitsgrundsatz des § 13 StPO besonders restriktiv zu handhaben, sodass sich das Gericht oft in der schwierigen Situation befinden wird, abschätzen zu müssen, ob die Möglichkeit einer Durchführung der Hauptverhandlung ohne Beschränkungen zeitnah möglich sein wird, weil ja auch dem Beschleunigungsgebot des § 9 StPO in Haftsachen besondere Bedeutung zukommt.
REWI: Gibt es Mindestvoraussetzungen für ein faires Verfahren?
Thomas Mühlbacher: Unabdingbare Voraussetzung ist jedenfalls, dass der Angeklagte dem Verfahren durchgehend und uneingeschränkt folgen und sich daran beteiligen kann. Auch die Öffentlichkeit muss in der Lage sein, den Gang des Verfahrens einschließlich der Zuschaltung des Angeklagten zu verfolgen.
Dafür gibt es technische Lösungen, die wir seit Jahren von kontradiktorischen Vernehmungen nach § 165 StPO kennen und die wir nun adaptieren müssen.
Eine praktische Schwierigkeit liegt eher in der Sicherstellung einer uneingeschränkten und vertraulichen Kommunikation des Angeklagten mit seinem Verteidiger. Dieser kann sich zwar im Rahmen eines Besuches in der Justizanstalt mit seinem Verteidiger ungestört und unbewacht beraten, Hauptverhandlungen nehmen aber gelegentlich einen unvorhersehbaren Verlauf, der eine unverzügliche Rücksprache des Angeklagten mit seinem Rechtsbeistand erfordert. Da eine vertrauliche Besprechung im Rahmen der Videokonferenz kaum denkbar ist, verbleibt hier wohl nur die Unterbrechung der Verhandlung und die telefonische Kommunikation über einen von der Justiz zur Verfügung zu stellenden Anschluss.
REWI: Also keine Gefahr der Einschränkung von Verfahrensrechten?
Thomas Mühlbacher: Eine aktuelle Gefahr sehe ich nicht. Derzeit erscheinen mir die legistischen Maßnahmen und ihre praktische Umsetzung der Gefährdungslage adäquat. Die Gefahr ist noch nicht gebannt. Es geht namentlich auch weiterhin darum, eine Einschleppung des COVID-19-Virus in die Justizanstalten zu verhindern und damit die Gesundheit und das Grundrecht auf Leben von Menschen zu garantieren, für die die Republik Verantwortung trägt. Sinkt aber die Ansteckungsgefahr, werden Gesetzgebung und Rechtsprechung den geänderten Bedingungen zeitnah Rechnung zu tragen haben, damit es nicht etwa mit dem Argument der Verfahrensökonomie dauerhaft zu schleichenden Beeinträchtigungen von Verfahrensgarantien kommt. Die Lehre hat hier eine wesentliche Kontrollfunktion. Das Strafverfahrensrecht ist – wie Roxin es ausdrückt – ein Seismograph der Staatsverfassung. Es empfiehlt sich also wachsam zu sein.