(Interview geführt am 8. Mai 2020)
REWI: Häufig liest man derzeit, vertragliche Zusagen zwischen Unternehmen und in anderen Zusammenhängen würden wegen der Krise auf den Prüfstand gestellt. Kann man sich wegen der Krise aus den vertraglichen Pflichten so einfach verabschieden?
Walter Doralt: Im Grundsatz gilt für das Vertragsrecht in Europa (und darüber hinaus) überall der römische Grundsatz pacta sunt servanda – Verträge sind zu erfüllen. Zuerst einmal: Die drei lateinischen Worte sollen jetzt kein Anlass werden, über die Beibehaltung des Latinums für das Studium der Rechtswissenschaften zu diskutieren (es gehört längst geopfert, das Studium ist schwer genug und manchmal braucht man den Mut, etwas aufzugeben; nützlich ist es vielleicht, aber ob es eine zwingende Voraussetzung sein muss, naja, das kann man anders sehen und zB auf die Notwendigkeit solider Englischkenntnisse verweisen). Zurück aber zur Frage: Nein, leicht gelingt es nicht, sich mit Erfolg auf den Wegfall der Geschäftsgrundlage zu berufen. Auch dazu gibt es verschiedene Einteilungen. Im momentanen Umfeld haben wir aber ein Krise so ungewöhnlichen Ausmaßes und zwingende staatliche Vorgaben mit weitreichenden Eingriffen in fast allen Ländern, die es in dieser Form national und global noch nie gab. Daher: Häufig werden Parteien, für die die Erfüllung vertraglicher Pflichten jetzt sehr schwierig geworden ist, gut daran tun, über einen Wegfall der Geschäftsgrundlage nachzudenken.
REWI: Was bedeutet das konkret?
Walter Doralt: Die – oft als nicht hilfreich empfundene – Juristenantwort lautet natürlich auch hier: Es kommt darauf an! Es kommt zuerst darauf an, was die Parteien ausgemacht haben. Wenn eine Seite tatsächlich die jetzt eingetretenen Risiken übernommen hat, bleibt es im Grundsatz dabei. Eine Versicherung, die gegen Verluste aus Feuer Versicherungsschutz bietet, kann natürlich auch im unwahrscheinlichen Fall eines Brandes nicht sagen, ach, damit hatten wir aber nicht gerechnet! Also: Zwingendes Recht ist für unternehmerische Verträge bei der Risikozuordnung selten. Es wird also meist als Erstes die vertragliche Risikoverteilung zu prüfen sein; dann das dispositive Recht, in dem eine Risikozuweisung manchmal zu finden ist: Im Mietrecht ist zB für Seuchen eine eindeutige Bestimmung zu finden. Diese ist im aktuellen Kontext nur für Geschäftsraummieten relevant, dort aber im Kern relativ klar. Wenn der Laden geschlossen bleiben muss, weil eine behördliche Anordnung das Öffnen wegen einer Seuche (Pandemie) untersagt, wird keine Miete geschuldet. Kollege Ulfried Terlitza hat Näheres zu weiteren mietrechtlichen Fragen ausgeführt, auf welche ich an dieser Stelle gerne verweisen würde (Link).
REWI: Wie lässt sich diese Wertung rechtfertigen?
Walter Doralt: Die Wertung ist nach meiner Überzeugung richtig. Erstens kann man dafür ökonomische Argumente ins Treffen führen: Für Vermieter ist in der Regel ein Zeitraum eines Mietausfalls von wenigen Monaten leichter tragbar als für viele Geschäftsraummieter. Ein kleines Restaurant oder ein Handelsgeschäft kann oft nicht drei Monate die Miete weiterzahlen und null Umsätze machen, ohne in die Nähe der Insolvenz zu kommen. Bei der Vermietung ist es umgekehrt: Die typische Lage ist geradezu regelmäßig so, dass ein paar Monate Ausfall immer einzuberechnen sind. Manchmal kann ein Mieter nicht bezahlen, manchmal gibt es beim Mieterwechsel Leerstand. Die meisten Immobilieneigentümer in der Geschäftsraummiete überleben als Unternehmen einen Ausfall von wenigen Monaten ohne fundamentale Krise – auch wenn es schmerzhaft ist. Insoweit ist zweitens zu bedenken, dass mit einer Insolvenz ein Organismus zerstört wird, ein „lebendes Unternehmen“. Das Restaurant, das wie ein Uhrwerk funktioniert und eingespielt ist, der gut sortierte Laden etc., die können auch nicht sofort wieder belebt werden. Ein leerstehendes Geschäftslokal kann hingegen einfach auch neu vermietet werden oder die Immobilie verkauft werden. Daher: Selbst wenn es ausnahmsweise bei einem sehr finanzschwachen Vermieter um die Frage geht, „Überlebt der Mieter oder der Vermieter?“, ist in diesem Fall sinnvoll, die Geschäftsraummieter von der Last zu befreien und den Ausfall beim Eigentümer zu lassen. Drittens: Die Gefahr, dass behördlich angeordnet eine Nutzung, die die Parteien zu Recht einfach vorausgesetzt hatten, zwischenzeitig nicht mehr möglich ist, ist im Zweifel wie jedes Risiko zu behandeln: Wenn also die Parteien nichts ausgemacht haben, trifft ein Risiko im Normalfall den Eigentümer. Alle drei Argumente stützen hier also die Lösung, die in Österreich seit Jahrhunderten im Gesetz steht. In Europa wird sonst darüber derzeit gestritten, doch halte ich auch für Deutschland die Lösung, die wir im ABGB vorfinden, im Ergebnis für richtig. Allerdings kann man für das deutsche Recht auch gut vertreten, dass die Parteien die Nachteile in einer Situation teilen müssen und nicht nur eine Seite diese zu tragen hat – das kann durch den Anpassungsanspruch wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage erreicht werden.
REWI: Welche Folgen nehmen Sie für das Vertragsrecht an?
Walter Doralt: Eine Folge wird im Recht wie in der Infektionskette sein: Wer das Virus hatte und überlebt, wird nach verbreiteter Annahme immunisiert. Im Recht gibt es den Automatismus zwar nicht, ich rechne aber damit, dass in unternehmerischen Verträgen sehr schnell eine klare Risikoverteilung für Situationen, wie wir sie derzeit erleben, aufgenommen wird. Das war bisher noch fast immer die Reaktion der Praxis auf fundamentale Krisenerfahrungen. Wir alle lernen also Neues im aktuellen Umfeld und die Vertragsmuster werden wohl in vielen Kanzleien gerade überarbeitet.