REWI: Vor Kurzem durften wir Sie als Professor für Law and Business Innovation an der Uni Graz willkommen heißen. Wie ist es Ihnen bei uns in den ersten Wochen, die aufgrund der aktuellen Lage doch etwas anders als sonst gewesen sind, gegangen?
Matthias Wendland: Ausgezeichnet! Die Fakultät ist ein außerordentlich inspirierender Ort, den ich als sehr offen, international und lebendig wahrnehme. Mit einem fantastischen Kollegium und einer Kultur der Interdisziplinarität, Exzellenz und Innovation, die einen hervorragenden Rahmen für meine Forschung zur Algorithmenhaftung und zum Recht der Künstlichen Intelligenz bietet. Das sind Forschungsthemen, die nur im interdisziplinären Zusammenspiel von Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sinnvoll erschlossen werden können. Die REWI Graz bietet hierfür exzellente Bedingungen.
REWI: Sie waren bereits an den Universitäten Heidelberg, München und Harvard tätig. Welche Eindrücke und Erfahrungen haben Sie dort gewonnen?
Matthias Wendland: Jeder dieser Orte ist einzigartig, hat sein eigenes Charisma und hat meine wissenschaftliche Arbeit und mein Denken auf seine ganz besondere Art geprägt. Denn die Methoden, die Perspektive auf die großen Forschungsfragen und die Herangehensweise an Spitzenforschung sind höchst unterschiedlich und ausgesprochen bereichernd. Im Kern sind es immer konkrete Begegnungen mit Menschen, die den nachhaltigsten Einfluss auf meine eigene Forschung ausgeübt haben. Mit Blick auf Eindrücke und Erfahrungen hat jeder Ort seinen ganz besonderen spiritus loci. Neben der Universität Heidelberg und der Ludwig-Maximilians-Universität München als meiner Alma Mater hat mich wissenschaftlich sicherlich meine Zeit an der Harvard Law School am stärksten geprägt: Eine Atmosphäre von intensivem wissenschaftlichen Austausch, grenzenlosem Denken und inspirierender Kreativität. Tatsächlich bin ich diesem spirit in Graz wieder begegnet, allerdings auf sehr charmante Weise verbunden mit einer Leichtigkeit und Heiterkeit, wie man sie vielleicht nur hier finden kann.
REWI: Sie widmen sich in Ihrer Forschung vor allem dem Recht der Künstlichen Intelligenz (KI). Welche Fragen stehen hier für Sie im Mittelpunkt?
Matthias Wendland: Eine zentrale Forschungsfrage betrifft die Haftung beim Einsatz Künstlicher Intelligenz insbesondere im Bereich der medizinischen Diagnostik und Therapie. Der Gesundheitssektor ist eines der am stärksten wachsenden Anwendungsfelder für KI. Im Gegensatz zu herkömmlichen Technologien verfügen Systeme Künstlicher Intelligenz über die Fähigkeit, eigene Modelle zu entwickeln, selbstständig zu lernen und ihr „Verhalten“ eigenständig anzupassen. Wie sich ein solches System zukünftig verhalten wird, lässt sich daher weder vorhersagen noch überprüfen. Für die Zurechnung von Fehlfunktionen und die Durchsetzung von Haftungsansprüchen ist die mangelnde Opazität der Algorithmen – der sog. Blackbox-Effekt – allerdings ein Problem. Denn damit wird der Verschuldensnachweis wie auch die Nachvollziehbarkeit von Kausalverläufen faktisch unmöglich. Auf europäischer Ebene gibt es daher Bestrebungen, ein europarechtlich harmonisiertes Haftungsregime für Algorithmen und insbesondere KI-Systeme zu schaffen.
Daneben stehen präventive Ansätze wie die sog. Explainable AI, die darauf ausgerichtet sind, automatisierte Entscheidungen oder Prognosen von KI-Systemen nachvollziehbar zu machen. Ein Beispiel ist die medizinische Diagnostik, wo etwa die Bereiche von MRT-Bildern besonders markiert werden, die für die konkrete Diagnose schwerpunktmäßig herangezogen wurden. In weiteren Forschungsprojekten gehe ich der Frage nach, ob mit Blick auf die Business Judgement Rule unternehmerische Entscheidungen auf KI-basierte Prognosen gestützt werden dürfen oder vielleicht sogar müssen und inwieweit der Einsatz von Legal Tech-Anwendungen einer rechtlichen Regulierung oder sogar eines Zertifizierungsverfahrens bedarf.
REWI: Sie sind am Institut für Unternehmensrecht und Internationales Wirtschaftsrecht tätig. Gleichzeitig ist ihre Professur als interdisziplinäre „Brückenprofessur“ im Profilbildenden Bereich „Smart Regulation“ nicht nur der REWI-Fakultät, sondern auch der SOWI-Fakultät zugeordnet. Welche Schwerpunkte haben Sie sich für Ihre fakultätsübergreifende Tätigkeit vorgenommen?
Matthias Wendland: Der Profilbildende Bereich „Smart Regulation“ ist als Exzellenzfeld ein fakultätsübergreifender Leistungsbereich der Universität Graz zur Schwerpunktsetzung in der internationalen Spitzenforschung. Hier forschen wir interdisziplinär und fakultätsübergreifend zu Regulierungsfragen, die im Zusammenhang mit digitalen Technologien stehen. Künstliche Intelligenz, Algorithmen, Big Data, Industrie 4.0, Legal Tech-Anwendungen und selbstfahrende Autos erzeugen erhebliche rechtliche, wirtschaftliche und soziale Disruptionen. Daraus ergibt sich die Frage, wie Modelle der Regulierung, der Verhaltenssteuerung und Anreizsysteme in Zukunft aussehen könnten. Und auf welche Daten für eine effektive Regulierung zurückgegriffen werden kann.
Hierzu veranstalten wir im Oktober ein Symposium zum Thema „Smart Regulation: Theorie- und evidenzbasierte Politik“, das ich derzeit gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen ganz unterschiedlicher Fakultäten vorbereite. In der Forschung befasse ich mich vor allem mit Fragen des Rechts der Künstlichen Intelligenz, der Algorithmenhaftung sowie des Einsatzes von Legal Tech. Das sind Forschungsfragen, die sinnvollerweise nur fakultätsübergreifend angegangen werden können und denen ich im Rahmen interdisziplinärer Forschungsprojekte nachgehe.
Im Bereich der Lehre hat mir der Dekan die spannende Aufgabe der Koordination der rechtswissenschaftlichen Lehrveranstaltungen für den neuen interuniversitären Masterstudiengang „Computational Social Systems" (CSS) übertragen, der im kommenden Wintersemester startet. Der Studiengang wird gemeinsam von der Uni Graz und der TU Graz angeboten und soll die Studierenden auf die Herausforderungen digitaler Zukunftstechnologien vorbereiten. Daneben wird im aktuellen Sommersemester eine „Legal Tech Clinic“ stattfinden, in der die Studierenden nicht nur die gängigsten Legal Tech-Anwendungen kennenlernen, sondern auch selbst solche Anwendungen entwickeln. Und das ganz ohne Programmierkenntnisse.
REWI: Sie beschäftigen sich mit ganz aktuellen und neuen Entwicklungen im Bereich des Rechts der Digitalisierung und vor allem der Künstlichen Intelligenz. Was haben Sie für sich privat daraus mitnehmen können?
Matthias Wendland: Zum einen das „Thinking out of the Box“ und die Notwendigkeit eines stetigen Perspektivenwechsels. Beides wird durch die Beschäftigung mit diesen stark interdisziplinär ausgerichteten Forschungsfragen auf sehr fruchtbare Weise herausgefordert. Und eine große Dankbarkeit für die analoge, die echte und ganz reale Welt. Ein Staunen und Verstummen vor dem gerade nicht vom Menschen geschaffenen Wunder des menschlichen Geistes, vor dem Künstliche Intelligenz wie ein Glasperlenspiel erscheint.
REWI: Wie wurde eigentlich Ihr Interesse für Wissenschaft und Lehre geweckt?
Matthias Wendland: Forschen, Neues zu entdecken und Zusammenhänge zu verstehen hat mich schon immer unglaublich fasziniert. Und diese Faszination ist während des Studiums noch weiter gewachsen. Hinzugekommen ist die Freude am Lehren und an der Begleitung von Menschen als Mentor. Dazu beizutragen, dass Menschen ihren Weg finden und in ihren Fähigkeiten, Talenten und ihrer Persönlichkeit wachsen, ist eine ausgesprochen erfüllende und bereichernde Erfahrung, für die ich sehr dankbar bin.
REWI: Konnten Sie Graz schon ein bisschen erkunden?
Matthias Wendland: Absolut. Die Stadt strahlt mit der ihr eigenen Mischung aus Urbanität, mediterranem Klima und einem Hauch Italien inmitten der Alpen eine Faszination aus, der man sich nur schwer entziehen kann. Ein ausgesprochen schönes Fleckchen Erde mit ausgezeichneter Küche. Und einer unglaublich schönen Umgebung. Die ersten Bergtouren sind schon geplant.
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