Sie werden mitunter als zwei konträre Rechtssysteme betrachtet. In dem einen herrscht das Richterrecht, im anderen das gesatzte Recht. Besteht zwischen dem Common-Law-System und dem bei uns bestimmenden Civil-Law-System tatsächlich eine so große Kluft und wo finden sich die gravierenden Unterschiede? Eine Reihe hochkarätiger Expert_innen aus der ganzen Welt deckt in der neuen Publikation von Christoph Bezemek spannende Aspekte auf.
REWI Uni Graz: Was sind die großen Unterschiede zwischen dem Common-Law-System der angloamerikanischen Rechtsordnungen und den kontinentaleuropäischen Civil-Law-Rechtsordnungen? Was verbindet die beiden Rechtssysteme?
Christoph Bezemek: Die Lehrbuchantwort wäre wohl, dass die Systeme Recht aus unterschiedlichen Richtungen denken. Das Civil Law (unsere Rechtstradition, wenn man so will) denkt top-down, geht vom gesatzten Recht aus, das es auf den Fall anzuwenden gilt. Das Common Law (das insbesondere den angloamerikanischen Rechtsraum prägt) denkt bottom-up, vom Fall her. Beide Rechtssysteme treffen sich auf der Ebene von Regeln und Prinzipien, die aber eben, wenn man im Bild bleiben will, entweder deduktiv abzuleiten oder induktiv zu ermitteln sind. Freilich ist das eine sehr vereinfachte – methodisch nach gerade naive – Sichtweise, die zu wenig mehr als einer Karikatur taugt. An eben diesem Punkt setzt das Buch an.
Wie kam es eigentlich zur Entwicklung dieser zwei verschiedenen Systeme? Haben sie einen gemeinsamen Ausgangspunkt?
Die Systeme entstammen in der Tat verschiedenen historischen Strängen. Das Common Law (das so heißt, weil es das den Gerichten „gemeine“ – also gemeinsame – Recht war) entstammt der distinkten Rechtstradition Englands und hat von dort aus seinen Siegeszug angetreten. Das Civil Law entspringt dem römischen Rechtsdenken und seiner Zusammenführung in Sammlungen. So verschieden der Ausgangspunkt, so groß ist heute die Konvergenz der Systeme. Nicht nur, weil Gerichte in Civil-Law-Systemen heute keineswegs mehr für sich in Anspruch nehmen würden, in Montesquieus Sinn „Mundstücke des Gesetzes“ zu sein. Und auch nicht bloß, weil gesatztes Recht in klassischen Common-Law-Systemen eine immer größere Rolle einnimmt. Sondern auch (und vor allem), weil sich weltweit viele Rechtssysteme schon dem Grunde nach nicht klar der einen oder anderen Tradition zuordnen lassen würden. Denken Sie an Israel oder, wie mein Kollege Han Liu in seinem Kapitel überzeugend argumentiert, etwa auch an China.
Wie ist es Ihnen ergangen, als Sie das erste Mal im Common Law arbeiteten? Eine große Umstellung?
Das ist eine spannende Frage. Ewald Wiederin hat einmal mit Blick auf die österreichische Rechtstradition gemeint, was sie auszeichne, sei das „Denken vom Recht her“. Und dieses Denken „vom Recht her“ ist für den Juristen österreichischen Zuschnitts eben insbesondere das Denken vom „gesatzten Recht her“. Das „Denken vom Fall her“ war in diesem Fall zunächst sicherlich eine spannende neue Perspektive, auch in der Art, wie es gerade den didaktischen Zugang in den Hörsälen der führenden Law Schools prägt; ein Denken freilich – davon bin ich überzeugt –, das eben nur unter umgekehrtem Vorzeichen dafür steht, was Recht seinem Anspruch nach – oder, wenn man es mit Lon Fuller wenden möchte: seiner Moral nach – notwendig ausmacht.
Wurden Sie von Ansätzen im Common Law überrascht?
Überrascht weiß ich nicht; fasziniert hat es mich seit jeher. Nicht zuletzt, was die Grundfunktionalität anlangt: Der große Rechtstheoretiker Jeremy Bentham – einer der führenden Kritiker des Common Law und ein begnadeter Polemiker – hat einmal gemeint, das Common Law, das sei „Dog Law“, weil es so funktioniert, wie man seinen Hund erzieht: Man wartet darauf, dass der Hund etwas falsch macht, und dann schlägt man ihn dafür. Ein drastisches Beispiel, das gebe ich zu. Und ich möchte betonen, dass Balduin der Mops (Anm. der Redaktion: der Hund im Hause Bezemek), wenn überhaupt, maximal mit kurzfristigem Leckerlientzug sanktioniert wird und auch dann nur, wenn er sich am neuen Teppich vergeht. Aber was will Bentham sagen? Es ist doch bemerkenswert, ein System zu haben, das erst post factum im Vollzug der Regel die Regel selbst entwickelt. Freilich: Auch das ist, wie ich meine, zu einfach. Wer wissen will warum, muss freilich nachlesen.
Wovon haben Sie bei Ihrer Auseinandersetzung mit dem Common Law besonders profitiert?
Recht als argumentative Praxis zu begreifen. Nichts veranschaulicht das so klar wie der Zugang des Common Law. Eine Einsicht, deren Bedeutung nicht überschätzt werden kann und die wir an der REWI der Uni Graz – gleichsam systemübergreifend – versuchen an unsere Studierenden weiterzugeben.
Was erwartet die Leser_innen in der Publikation?
Ein tour de force von den Daten juristischer Argumentation, über theoretische und didaktische Implikationen der beiden Traditionen bis hin zu geistesgeschichtlichen Entwicklungszusammenhängen, richterlichem Rollenverständnis und Systemanalyse vor dem Hintergrund einzelstaatlicher Zugänge. Es bleibt kein Auge trocken.
Arbeiten Sie bereits an neuen Buchprojekten?
Erst vor Kurzem habe ich ein 100.000 Wörter starkes Manuskript für „Constitutionalism 2030“ an den Verlag geschickt. Ich habe hier das Privileg gemeinsam mit neun brillanten Kolleg*innen aus Europa und dem Nahen Osten über die Zukunft des (globalen) Konstitutionalismus nachzudenken. Wo werden Demokratie, Rechtsstaat, Gewaltengliederung oder Menschenrechte in knapp zehn Jahren stehen? Werden jene recht behalten, die den Rechtsstaat demokratischer Prägung dem Untergang geweiht sehen, oder ist das bloßer Alarmismus? The answer may surprise you…
Nachzulesen wird das alles dann noch vor dem Sommer bei Hart Publishing sein. Aber darüber können wir dann ja ein separates Gespräch führen…
Weitere Infos zur Publikation „Common Law – Civil Law. The Great Divide?“ finden Sie hier.