REWI Uni Graz: Gemeinwohl liest man in den unterschiedlichsten Zusammenhängen, die Verwendung scheint zum Teil unterschiedlich motiviert. Wie würden Sie die Bedeutung des Wortes erklären?
Christian Hiebaum: Eine allgemein gültige und zugleich nützliche Definition von „Gemeinwohl“ kann ich nicht anbieten. Selbiges gilt aber auch für andere, ebenso fundamentale Begriffe, wie „Gerechtigkeit“, „Wahrheit“, „Autonomie“, „Tugend“, „Intention“ etc. Klar ist nur, dass „Gemeinwohl“ die optimale Befriedigung der Interessen einer Gruppe bezeichnet. So gut wie immer geht es dabei um die Interessen einer als Besitz-, Kooperations- oder Solidargemeinschaft beschreibbaren und meistens um die Interessen einer als politisches Gemeinwesen organisierten Gruppe.
Darüber, was genau Gruppeninteressen sind, gehen die Auffassungen freilich auseinander. Die Grundfrage (die sich noch in weitere Fragen aufdröseln ließe) lautet: Handelt es sich bei Gruppeninteressen immer nur um Aggregate individueller Präferenzen (wie sie etwa durch Verfahren der kollektiven Entscheidungsfindung gebildet werden) oder existieren zumindest manche Gruppeninteressen ganz oder teilweise unabhängig von gedanklichen oder realen Präferenzaggregationen, sodass über sie auch sinnvoll gestritten werden kann?
Im politischen und rechtlichen Diskurs unterscheiden sich Gemeinwohlargumente von anderen Argumenten jedenfalls dadurch, dass sie nicht direkt auf Rechte und Pflichten abstellen, sondern allenfalls deren Begründung, Konkretisierung und Gewichtung dienen. Zudem können sie – wie auch Moral und Gerechtigkeit – Entscheidungen zwischen verschiedenen, aber gleichermaßen effizienten sozialen Zuständen stützen. Zu erwähnen wäre noch, dass in Gemeinwohlargumentationen der Ausdruck „Gemeinwohl“ oft gar nicht verwendet wird. Häufig sprechen wir stattdessen (wenn nicht ohnehin nur von den Dingen, die dem Gemeinwohl zuträglich sind oder wären) von „öffentlichen Interessen“, „kollektiven Gütern“, „dem nationalen Interesse“, „Staatszielen“ und Ähnlichem.
Gibt es Aspekte, die erst jüngst unter der Idee „Gemeinwohl“ aufscheinen?
Wenn „erst jüngst“ so etwas wie „in den letzten Jahren oder Jahrzehnten“ bedeutet, dann würde ich vor allem Probleme der effektiven und legitimen Bereitstellung globaler öffentlicher Güter nennen. Zu solchen Gütern zählen etwa ein lebensfreundliches Klima oder nicht allzu krisenanfällige Strukturen der transnationalen wirtschaftlichen Kooperation. In diesem Kontext hört „Gemeinwohl“ auf, nichts weiter als das Wohl einer partikularen Gruppe zu bezeichnen – auch wenn das nationalstaatlich verfasste Gemeinwesen nach wie vor den primären Bezugspunkt bildet. Oder anders: Das Wohl partikularer Gruppen hängt mehr denn je von Gütern ab, deren Bereitstellung nicht allein in den eigenen Händen liegt und ihnen deutlich mehr globalen Gemeinsinn abverlangt als bloß die Anerkennung der Rechte anderer, wie sie gerade (völkerrechtlich) etabliert sind.
Welches Thema hat Sie bei der Arbeit an der Publikation besonders gefesselt?
Die Verwobenheit von Gemeinwohl als Maßstab für die Bewertung politischen Handelns bzw. sozialer Zustände mit Gerechtigkeit und Effizienz, zusammen mit der sich augenscheinlich daraus ergebenden Unmöglichkeit, Gemeinwohl restlos auf das eine oder das andere zu reduzieren. Letzteres hat schon (aber nicht nur) damit zu tun, dass die Referenzgruppen für Gemeinwohlerwägungen nicht unbedingt dieselben sind wie die für Gerechtigkeits- oder Effizienzerwägungen. So mag kollektiver Wohlstandschauvinismus dem Wohl der jeweiligen Gruppe zuträglich und zugleich ungerecht sein bzw. Ineffizienz verursachen.
Was erwartet die Leser_innen insgesamt in Ihrem soeben erschienenen Werk?
Wie ich meine, sehr gute Einführungen in die für das Gemeinwohldenken zentralen Begriffe und Probleme sowie informative Darstellungen einschlägiger Befunde und in den Rechts-, Geistes-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften geführter Debatten. Insgesamt verdeutlicht das Handbuch die Vielschichtigkeit des Themenfeldes und die Vielfältigkeit der oftmals nur impliziten Gemeinwohlbezüge in unserem politischen wie juristischen Denken, auch im Denken derjenigen, die der Idee skeptisch oder gar zynisch gegenüberstehen. Jedenfalls sollte das Buch klar machen, dass Gemeinwohldenken nicht notwendig von einem obskuren Kollektivismus gespeist wird.
Arbeiten Sie bereits an Neuem?
Zumindest arbeite ich an keinem großen intellektuellen oder wissenschaftlichen Projekt. Ich neige überhaupt dazu, in universaldilettantischer oder, etwas schmeichelhafter, sehr multidisziplinärer Manier auf verschiedenen Hochzeiten gleichzeitig zu tanzen. Dementsprechend sollte in diesem Jahr noch ein Paper über „Law and Its Cultural Representations“ in einem von dem Kulturhistoriker Peter Pichler herausgegebenen Band über Heavy Metal erscheinen, während ich mich auf ein Seminar zu „Intergenerational Justice and Biodiversity“ vorbereite, das ich im kommenden Wintersemester mit Lukas Meyer vom Institut für Philosophie anbiete. Dafür habe ich auch begonnen, mich mit der praktisch-philosophischen und der juristischen Debatte zum Klimaschutz vertraut zu machen. Erste Gespräche mit den Kolleg_innen vom ClimLaw-Zentrum, allen voran Miriam Hofer, sowie mit Lukas Meyer und seinem Team haben sich für mich bereits als ausgesprochen ertragreich und inspirierend erwiesen. Insbesondere über einige grundrechtstheoretische und -politische Fragen möchte ich in den nächsten Monaten noch intensiver nachdenken. Eventuell schreibe ich auch etwas dazu.
Näheres zum Handbuch Gemeinwohl von Christian Hiebaum finden sie hier.