Mittels eines Mobilitätsstipendiums des Programms Erasmus+ International und dank der Unterstützung von Univ.-Prof. Dr. Thomas Garber (Institut für Zivilverfahrensrecht und Insolvenzrecht) sowie des lokalen Konfuzius-Instituts verbrachten Mag. Michael Otti und Mag. Bernhard Sommer einen 10-tägigen Lehraufenthalt an der rechtswissenschaftlichen Fakultät Nanjing im Südosten Chinas. Im Rahmen des Leitthemas „Challenges and Opportunities for Courts in the 21th century – A Sino-European Dialogue“ wurden aus rechtsvergleichender Sicht die Auswirkungen rezenter sozialer, wirtschaftlicher und technischer Entwicklungen auf die zivilrechtliche Streitbeilegung erörtert. Die umfangreichen Diskussionen über diesbezügliche Problemstellungen und Lösungsstrategien im internationalen Kontext ergänzten das im Jahr 2021 an der Universität Graz begründete Tagungsprojekt „Zukunft der zivilrechtlichen Streitbeilegung: Digitalisierungsdruck und Innovationsbedarf“ (zum Tagungsband). Neben der Darstellung diverser einzelstaatlicher zivilprozessualer Digitalisierungsbemühungen wurden Schwerpunkte und Herausforderungen bei der Umsetzung der EU-Verbandsklagenrichtlinie zur Durchsetzung von gleichartigen (Verbraucher-)Ansprüchen präsentiert. Aufgrund des bereits seit 1984 bestehenden engen Austauschs der rechtswissenschaftlichen Fakultäten Nanjing und Göttingen widmeten sich die chinesischen Studierenden den rechtsvergleichenden Darstellungen sehr aufgeschlossen.
Besonders fruchtbringend entwickelte sich der Diskurs rund um die Risiken und Chancen moderner (KI)-Technologien für die Gerichtsbarkeit – die Adaptierung von Gerichtsverfahren in einer zunehmend digitalen Gesellschaft birgt diesseits und jenseits von Atlantik und Pazifik besondere Brisanz. Durch interaktive Workshop-Formate und das besondere Engagement der chinesischen Studierenden konnten intensive Einblicke in die Digitalisierungsbemühungen rund um die chinesische Zivilgerichtsbarkeit erlangt werden. So halten KI-Technologien, wie z. B. automatische Spracherkennungsprogramme für die Protokollierung von Prozessen, mittlerweile flächendeckend Einzug. Vollständig online abgehaltene Verfahren, die im Live-Stream der Öffentlichkeit zugänglich sind, genießen breite Akzeptanz und werden gerade mit Blick auf die Überwindung z. T. weiter geographischer Distanzen als große Erleichterung verstanden. Trotz zahlreicher technologischer Pilotprojekte, deren Realisierung sich in Europa noch in weiter(er) Ferne befindet, bestand – dem in China vorherrschenden Meinungsstand entsprechend – auch unter den Studierenden Einigkeit darüber, dass juristische KI-Technologie nur unterstützend agieren solle. Eine völlige Substitution von Richterinnen und Richtern sei demgegenüber mit einem fairen Verfahren nicht vereinbar. Insgesamt bestätigte sich der bereits aus der Ferne gewonnene Eindruck, dass die chinesische Rechtspolitik das wesentliche Effizienzpotential digitaler Anwendungen erkannt hat und entsprechend offensiv Maßnahmen im E-Justice-Bereich vorantreibt. Diese gewachsene Bedeutung spiegelt sich nicht nur in der Schwerpunktsetzung vieler juristischer Fakultäten wider. Es fungieren auch diverse Gerichte als Träger für Pilotprojekte, um entwickelte Technologien auszutesten und zu verbessern.
Unabhängig von der – letztlich vom jeweiligen nationalen Rechtssystem abhängigen – Vereinbarkeit technischer Innovationsschritte mit zivilprozessualen Rechtsgrundsätzen birgt eine nähere Auseinandersetzung mit den chinesischen Fortschrittsbemühungen auch in Zukunft reichlich Anreize und Ideen für den heimischen Wissenschaftsdiskurs und sollte nicht außer Acht gelassen werden. Gerade die enge Kooperation nach dem Vorbild deutsch-chinesischer Institute trägt durch vermehrte Publikationen und deren Übersetzungen zu einer immer besseren Zugänglichkeit rechtswissenschaftlicher Quellen bei.