REWI Uni Graz: Ihre Verbindung zur Wissenschaft und zur Uni Graz ist sehr stark. Sie habilitierten sich für das Verfassungs- und Verwaltungsrecht, waren u.a. Vorsitzender des Universitätsrats der Uni Graz und lehrten und forschten schon in den 1960er-Jahren an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät. Nach wie vor halten Sie eine Lehrveranstaltung zum Thema Politik und Verwaltung. Welche Veränderungen beobachteten Sie in diesem Bereich?
Gerhart Wielinger: Als ich mich habilitierte und danach im Verfassungsdienst des Bundeskanzleramtes arbeiten konnte, hatte die Spitzenpolitik, insbesondere Bruno Kreisky, noch ein positives Verhältnis zum Phänomen der Staatlichkeit als einen Herrschaftsverband, der die Lebensbedingungen der Menschen gestalten kann. Dabei wurde die Bedeutung der Instrumente rechtsstaatlicher Vollziehung, nämlich zunächst die Qualität der Rechtsvorschriften erkannt und gepflegt. So wurde z.B. damals die Gesellschaft für Gesetzgebungslehre gegründet und von der Politik positiv zur Kenntnis genommen. Nach dem Ausscheiden von Kreisky begann in beiden Großparteien die Mode, den Staat als Wirtschaftsbetrieb zu verstehen, was in der Praxis dazu führte, dass in den Zentralstellen des Bundes die Fähigkeit zur Konzipierung qualitativ hochstehender Rechtsvorschriften nicht mehr gepflegt wurde. Hinzu kam, dass die Begrenzung der Zeit, für welche Leitungsfunktionen vergeben werden, und die Erleichterung der Möglichkeit, Vertragsbedienstete einzustellen und diese mit Leitungsfunktionen zu betrauen, dazu geführt haben, dass in den Zentralstellen des Bundes in vielen Fällen primär parteipolitische Vertrauensleute mit Leitungsfunktionen betraut werden. Die Folgen davon hat man in der Corona-Pandemie sehen können. Es ist nämlich kein Zufall, dass sich viele Rechtsvorschriften als mangelhaft erwiesen haben.
Ihre Tätigkeit in der Verwaltung des Landes Steiermark führte Sie in die Positionen des Leiters des Verfassungsdienstes, des Landesamtsdirektor-Stellvertreters und schließlich des Landesamtsdirektors. Was waren dabei besondere Herausforderungen?
Im Verfassungsdienst durfte ich jenes Amtsverständnis praktizieren, das mir aus dem Verfassungsdienst des Bundeskanzleramts geläufig war, nämlich nicht Sprachrohr einer politischen Partei zu sein, sondern Stellungnahmen zu Rechtsfragen unabhängig davon abzugeben, ob sie einer politischen Partei, auch der Partei des Landeshauptmanns, genehm waren.
Als Landesamtsdirektor durfte ich, das ist vielleicht eine steirische Besonderheit, die historisch erklärbar wäre, erstmalig die Funktion des Leiters des Inneren Dienstes wirklich wahrnehmen. Bis dahin war es nämlich so, dass, anders als im Verfassungsgesetz über die Ämter der Landesregierungen vorgesehen, die jeweilige politische Spitze auch organisatorische Fragen entscheiden durfte. Das führte dazu, dass die Kommunikation zwischen den einzelnen Abteilungen mitunter sehr mangelhaft war, sodass es zu geradezu grotesken Doppelgleisigkeiten kommen konnte. So war z.B. die Bewirtschaftung der dem Land gehörigen Liegenschaften und Objekte so gestaltet, dass etwa die Präsidialabteilung dringend ein Objekt für die Unterbringung der Verwaltungsakademie suchte und ein solches für teures Geld angemietet wurde, während gleichzeitig das Landwirtschaftsressort dringend einen Nutzer für ein Gebäude, das von diesem Ressort bewirtschaftet wurde, suchte. Mit derartigem Unfug durfte ich aufräumen.
Eine Ihrer ersten beruflichen Stationen war die Verwaltungsakademie des Bundes, wo ein gewisser Alexander Van der Bellen zu Ihren Arbeitskollegen zählte. Wen durften Sie in Ihrer Laufbahn noch kennenlernen und wer beeindruckte Sie besonders?
Ich durfte sehr viele Politiker_innen und Jurist_innen, aber auch Nationalökonom_innen kennenlernen. Besonders beindruckten mich Ludwig Adamovich, Kurt Ringhofer, Karl Korinek, Josef Krainer und Waltraud Klasnic.
Welche Eigenschaft hat Ihnen in beruflicher Hinsicht sehr geholfen?
Meine Fähigkeit, prägnant zu formulieren und Sachverhalte, auch solche mit politischer Brisanz, nüchtern zu analysieren.
Auch international sind Sie viel herumgekommen. Sie waren mehrfach Mitglied österreichischer Delegationen bei zwischenstaatlichen Verhandlungen sowie beim UN-Menschenrechtskomitee, trugen u.a. in Argentinien oder Chile vor…
Die beiden Staaten Südamerikas, in denen ich lehren durfte, haben jeweils (Chile zur Vorbereitung der Zeit nach Ende der Ära Pinochet und Argentinien nach Ende der Diktatur zur Bewältigung von deren Folgen) die Bedeutung der Erkenntnisse der Wiener rechtstheoretischen Schule für die Rechtsstaatlichkeit erkannt. So wurde ein österreichischer Referent gesucht, der insbesondere über die Lehren Hans Kelsens und Adolf Merkels vortragen konnte.
Durch internationale Tätigkeiten erlangte ich tiefe Einblicke in die Realsituationen vieler Länder. Ein Beispiel: 1981 war ich Mitglied der österreichischen Delegation zu Verhandlungen über ein Kulturabkommen mit Jugoslawien. Dabei wurde mir bewusst, wie brüchig der jugoslawische Staat war. Es war erkennbar, dass Mitglieder der jugoslawischen Delegation sich jeweils primär nicht dem Gesamtstaat, sondern den Teilrepubliken verpflichtet sahen.
Sie sind mit Auszeichnungen hoch dekoriert. Heuer wurde Ihnen das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst der 1. Klasse überreicht. Sie erhielten von der Uni Graz den Ehrenring in Gold und das Goldene Doktordiplom. Darüber hinaus wurden Sie 2001 mit dem höchsten Orden, den Frankreich vergibt, zum Ritter („Chevalier“) der Ehrenlegion und bekamen 2006 eine weitere französische Auszeichnung, die bislang überhaupt nur ganz wenigen Österreicher_innen zuteil wurde: Man nahm Sie als Offizier („Officier“) in den Orden des Mèrite auf. Wie kam es dazu?
Ich durfte im Amt der Steiermärkischen Landesregierung nach dem Ausscheiden von Kurt Jungwirth aus seinem Amt als Kulturlandesrat in der Landesregierung die Kontakte mit Frankreich betreuen. Dies deshalb, weil ich auch in Frankreich studiert habe und Mitglied des Vorstands der Österreichisch-Französischen Gesellschaft bin. So durfte ich das Zustandekommen eines Partnerschaftsabkommens zwischen der Steiermark und dem französischen Departement de la Vienne betreuen und an den Aktivitäten, die sich daraus ergaben, mitwirken. Dies wurde in Frankreich sehr positiv aufgenommen.
Wenn Sie heute auf Ihre Jus-Studienzeit in den 1960er-Jahren angesprochen werden, was fällt Ihnen spontan zu dieser ein?
Zwei Dinge: Erstens, dass die Rechtsgeschichte zu stark betont war. Zweitens, dass in Österreich im Gegensatz zu Deutschland auch Nationalökonomie im Studienplan enthalten war, was das Gesichtsfeld der Jurist_innen beträchtlich erweiterte. So ist es kein Zufall, das große Vertreter der österreichischen Nationalökonomie wie Joseph Schumpeter von ihrer Ausbildung her Juristen waren. Nunmehr hat man sich aus meiner Sicht leider zu sehr am deutschen Vorbild orientiert und bildet die Leute zu Justizfunktionär_innen (Rechtsanwält_innen und Richter_innen) aus. Das verengt das Blickfeld.
Was begeistert Sie privat?
Ich bin sehr gerne Großvater einer vierjährigen Enkelin und eines zweijährigen Enkels, die zu meiner großen Freude in Graz leben.