REWI Uni Graz: Sie forschen an unserer Fakultät zum Thema „The Boundaries of Words, Dense Concepts, and the Unsaturation of Human Rights”. Welche Grenzen geben uns Wörter vor?
Andrés Santacoloma Santacoloma: Diese Frage setzt eine Antwort auf eine der größten Herausforderungen der Rechtswissenschaft im Allgemeinen und der Rechtsphilosophie und Rechtstheorie im Besonderen voraus: Wo liegen die Grenzen der Bedeutung oder des Wortlauts von Begriffen sowohl in der Rechtssprache als auch in der natürlichen Sprache? Obwohl die Regeln der Rechtssprache genauere Differenzierungen als die der natürlichen Sprache erzeugen, werden die angemessenen Differenzierungsgrade in der konkreten Situation bestimmt. Die Bestimmung der Genauigkeits- und Spezifikationsgrade hängt von den betreffenden Begriffen ab. Trotz der extremen Fachlichkeit und Bestimmtheit der Rechtssprache haben die Begriffe, aus denen sie sich zusammensetzt, einen Migrationshintergrund, der ihre Interpretation und Neuinterpretation ermöglicht. Deshalb kann ein etablierter juristischer Begriff aufgrund von Tatsachen oder der Gewinnung neuer Erkenntnisse, nicht nur rechtlicher, sondern auch wissenschaftlicher, moralischer oder politischer Art, in Frage gestellt werden, um nur einige relevante Szenarien zu nennen.
Können Sie dazu Beispiele anführen?
Die Bestimmung des Umfangs eines im Wesentlichen umstrittenen Begriffs oder eines dichten Wertbegriffs in einem relevanten Rechtsfall kann die Anwendung bzw. Diskussionen über unterschiedliche Auslesungsmethoden und Normenanwendungen implizieren. Stichwort: Der dichte moralische Begriff „Folter“ kann im konkreten Fall zur Überarbeitung seines Migrationshintergrunds führen, um seinen spezifischen Unterschied festzustellen. Es handelt sich aber nicht um ein Gedankenexperiment. Beispiele für diese Problematik ziehen sich durch das gesamte Rechtssystem: Die Ehe wurde bereits in kontinentalen Kodifikationen definiert, aber dank unseres differenzierten Verständnisses des Gleichheitsbegriffs ist es möglich, den Rechtsbegriff der Gleichheit und dann den der Ehe neu zu interpretieren.
Ein Prozess, der niemals endet…?
Dieses Panorama klingt zunächst, vor allem im Hinblick auf die Rechtssicherheit, beängstigend: Wenn die Begriffe für die korrekte Anwendung von Rechtsnormen allein nicht ausreichen, wie können wir dann den normativen Erwartungen der Bürger gerecht werden? Gleichzeitig ist aber hervorzuheben, dass gerade diese Öffnung des Begriffsgehalts die Anwendung von Argumentationsmodellen ermöglicht, die nicht nur der Lösung konkreter echter Meinungsverschiedenheiten dienen, sondern auch die Erweiterung des Universums relevanter Rechtsfälle für das Recht materialisieren. Die Ungesättigtheit der Grundrechte hat gerade bei dieser konzeptionellen Öffnung ein offenes Konto.
Diesen Schwierigkeiten und Komplexitäten ist es sowohl zu verdanken, dass das Feld der konzeptionellen Rechtsforschung nicht mit einer Entscheidung der letzten Instanz endet, als auch, dass strukturelle Veränderungen in Gesellschaften und Rechtsordnungen nachvollzogen werden können, die dem Fortschritt der Rechtswissenschaft dienen. Die Relevanz dieser Art von Forschung und die damit verbundenen Schwierigkeiten sind Themen, mit denen Herr Prof. Matthias Klatt vertraut ist, weshalb ich mich für dieses Fellowship an dem von ihm geleiteten Forschungszentrum Graz Jurisprudence beworben habe.
Sie sind Doktorand an der Goethe Universität in Frankfurt am Main und sammelten davor bereits unterschiedlichste Erfahrungen auf internationaler Ebene (u.a. University of Alicante, University of Genoa, University of Miami). Was haben Sie durch diese Erfahrungen für sich und Ihre wissenschaftliche Tätigkeit mitnehmen können?
Die beiden Achsen, auf denen sich meine Forschung bewegt, sind vor allem semantische und ontologische Fragen von normativen Ordnungen. Meine Beschäftigung mit diesen beiden Themen ist das Ergebnis des wissenschaftlichen Austauschs mit verschiedenen „Rechts-Schulen“ und rechtstheoretischen Perspektiven. Der Weg, den ich durch verschiedene Institutionen gemacht, und die gemeinsame Arbeit, die ich mit verschiedenen Professoren und Kollegen durchgeführt habe, hat es mir ermöglicht, die Relevanz von Heterogenität zu verstehen: Unterschiedliche Stimmen und Positionen sind in der Praxis wichtige Szenarien unseres gesellschaftlichen Lebens. Gleichzeitig hat dies aber mein Interesse an Wahrheits- und Objektivitätsfragen verstärkt, insbesondere im Hinblick auf Recht und Moral, da trotz der unterschiedlichen Positionen, denen ich begegnet bin, alle einen Anspruch auf Richtigkeit in Bezug auf ihren eigenen Inhalt erheben: Der Konstruktivist verteidigt die Wahrhaftigkeit des Konstruktivismus, der Realist die vom Realismus, der Relativist die vom Relativismus und so weiter. Da das Relativitätsurteil nicht auf sich selbst angewendet werden kann, muss diese Frage, so wie alle, die sich in Bezug auf die Erkenntnis stellen, eine richtige Antwort haben, wenn wir von einer Wissenschaft mit einem Gegenstand der Erkenntnis sprechen wollen. Eine Besonderheit, die die Relevanz des Arguments auf den Punkt bringt, findet sich im deutschsprachigen Raum, wo Juristen nicht Gesetze, Recht oder Rechtsordnung studieren, sondern die Rechtswissenschaft.
Zweifellos hat dieser akademische und kulturelle Austausch auch einige wichtige persönliche und intellektuelle Herausforderungen mit sich gebracht. Das Wichtigste war vielleicht, eine ehrliche Position zu sich selbst einzunehmen und zu versuchen, intellektuelle bzw. akademische Integrität zu erreichen. Die Möglichkeit, diese Fragen aus verschiedenen Richtungen anzugehen, hat es mir ermöglicht, einige der zuvor erworbenen Kenntnisse oder die bewussten oder unbewussten Annahmen, mit denen ich meine Forschung durchgeführt habe, in Frage zu stellen. Es war eine Herausforderung, auf einen Forschungspfad, eine Gruppe oder Position verzichten zu müssen, weil die Stärke der Argumente und das vorliegende epistemische Material die Undurchführbarkeit oder Unplausibilität der einen oder anderen Position zeigten. Ich hatte den großen Vorteil, während meiner wissenschaftlichen Laufbahn außergewöhnliche Professoren zu haben, wie es bei Susan Haack und Ulfrid Neumann der Fall war, die mir gezeigt haben, wie wichtig der wissenschaftliche Dialog und die Relevanz einer fallibilistischen Haltung gegenüber den eigenen Ideen sind.
Sie stammen ursprünglich aus Kolumbien. Welchen Stand haben die Rechtswissenschaften dort beziehungsweise wie nehmen Sie persönlich diese Wissenschaftsdisziplin in Ihrem Geburtsland wahr?
Kolumbien ist ein Land, das für Juristen viel zu bieten hat, sowohl für das inhaltliche Verständnis als auch für die Rechtsdurchsetzung in der Rechtspraxis. Zwei wichtige Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit finden sich einerseits in den berühmten liberalen und fortschrittlichen Entscheidungen des Verfassungsgerichts Kolumbiens, die weltweit als Studienmaterial für verschiedene Akademiker dienen und die gezeigt haben, dass der diskursive und dialektisch notwendige Austausch auch in Momenten großer Krisen und Bürgerkriege möglich ist. Anderseits steht der berühmte Friedensprozess, der den jahrzehntelangen Konflikt mit einer der stärksten Guerillas, die Lateinamerika je hatte, beendete. Die akademische Debatte auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft zeigt neben den politischen, wirtschaftlichen, moralischen, sozialen Bemühungen und Ergebnissen, wie es durch Dialog und Reflexion möglich ist, Ideen und Modelle effektiv zu übertragen, um wünschenswerte Ziele zu erreichen. Stichwort: mittelbare Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate. Innerhalb dieses Prozesses war das zentrale Element für die Festigung des Abkommens und folglich des Friedens die Wahrheit, um so die Ziele der Gerechtigkeit durch Wiedergutmachung zu verfolgen. Hier zeigt sich eindeutig die Relevanz der semantischen Frage nicht nur im akademischen Kontext.
Was meine Verbindung zur Rechtswissenschaft in Kolumbien betrifft, ist sie zwar indirekt, aber vorhanden. Seit zwei Jahren bin ich als Leiter der Weiterbildung mit einem Forschungsinstitut in Kolumbien (ILAE) verbunden, das sich der Verbreitung neuer Paradigmen und der ergänzenden Fortbildung verschiedener Beamter der Institutionen des kolumbianischen Staates widmet. Kolumbien kämpft seit geraumer Zeit für ergänzende Fortbildungsgänge in allen Bereichen des öffentlichen Rechts, um die Institutionen und den Rechtsstaat zu stärken. Dieses Ziel wurde als Ergänzung zum Erreichen des Friedens skizziert, da die lateinamerikanischen Erfahrungen zeigen, dass nur ein Staat, der in der Lage ist, seinen Bürgern Gerechtigkeit zu garantieren, seine Ziele erreichen kann. Die angebotenen Kurse behandeln unterschiedliche Themen mit Experten aus aller Welt: Etwas, was wir der Digitalisierung, dem Internet und den neuen Plattformen für die Bildung zu verdanken haben.
Was haben Sie sich für Ihre weitere wissenschaftliche Tätigkeit vorgenommen?
Akademische und Forschungsinteressen wachsen immer mit der Zeit, den Debatten und den Perspektiven, die wir aus neuen Erfahrungen gewinnen. Es gibt jedoch eine Frage, die mich beschäftigt und die ich für die Entwicklung einer integrativen Rechtstheorie für zentral halte: ein besseres Verständnis sozialer Tatsachen im Allgemeinen, institutioneller und moralischer Tatsachen im Besonderen. Eines meiner Projekte für die Zukunft ist die detaillierte Diskussion darüber, was bestimmte Tatsachen sind, die die Welt ausmachen, wie sie beschaffen sind oder woraus sie bestehen und wie wir sie kennen, wenn sie eine Realität haben (als Universalien), aber nicht existieren (als partikuläre Gegenstände). Ich bin der Überzeugung, dass diese Unterscheidung der Schlüssel ist, um auf verschiedene ontologische und metaphysische Herausforderungen zu reagieren, die zumindest seit der Blüte der analytischen Philosophie im normativen Bereich aufgeworfen wurden. Natürlich ist dieses Problem nicht neu. Es hat jedoch nicht an Aktualität verloren. Vielleicht lässt sich sogar unterzeichnen, dass es dringender denn je ist, wenn wir uns in einer Zeit bewegen, in der alle Meinungen den gleichen Wert haben, in der Meinung mit Wissen verwechselt wird. Die Bedeutung dieser Überlegungen liegt wiederum in ihrer Kraft, nicht nur erklärend, sondern rechtfertigend: Wenn wir die Natur der moralischen Tatsachen erklären können, die unserer Rechtspraxis bei bestimmten Gelegenheiten zugrunde liegen, wären wir in der Lage, die Rechtspraxis besser zu verstehen und Instrumente anzubieten, um sie angemessener durchführen zu können. Dieses Anliegen ist in meiner täglichen Arbeit latent vorhanden, aber sicherlich werde ich nach meinem Aufenthalt am Graz Jurisprudence und meinen Gesprächen mit Herrn Prof. Matthias Klatt und seinem Team neue Horizonte und Ziele haben, die es zu erreichen gilt.