(Interview geführt am 24. April 2020)
REWI: Was bedeutet die Corona-Krise für die Demokratie weltweit?
Florian Bieber: Zunächst einmal wurden zahlreiche Wahlen verschoben, so die Parlamentswahlen in Serbien und Nordmazedonien. In anderen Fällen wie in Polen findet die Präsidentschaftswahl im Mai als Briefwahl statt, obwohl das unter derzeitigen Bedingungen als undemokratisch gelten muss. Es konnte kein regulärer Wahlkampf stattfinden und der Amtsinhaber der autoritär und konservativ geprägten Regierungspartei PiS hat einen unfairen Vorteil. Weiterhin ist es zu einem starken Machtzuwachs der Exekutive gekommen, während Parlament und Justiz oftmals stark geschwächt wurden. In einigen Ländern, wie in Ungarn und Serbien, ist das Parlament für die Dauer der Krise de facto entmachtet worden. Dieses Ungleichgewicht bedroht die Demokratie in zahlreichen Ländern und die Gefahr besteht, dass diese Notsituation missbraucht wird, um eine langfristige Machtkonzentration von Regierungsparteien aufzubauen. Bereits vor der Corona-Krise stand die Demokratie weltweit unter Druck. Seit über einem Jahrzehnt hat die Zahl der Demokratien weltweit abgenommen. Diese Tendenz droht sich durch die Krise zu verschärfen.
REWI: Was sind die Probleme bei einem Ausnahmezustand wie in Ungarn oder Serbien?
Florian Bieber: Generell rechtfertig die Bekämpfung der Pandemie außergewöhnliche Maßnahmen, die tief in die Grundrechte und Demokratie eingreifen. Diese Schritte müssen jedoch verhältnismäßig sein. Ausgangssperren, die über 80 Stunden, also mehr als drei Tage, dauern, wie das in Serbien über das orthodoxe Ostern der Fall war, werfen die Frage auf, ob sie eine sinnvolle Maßnahme sind. Außerdem hat sich der Druck auf unabhängige Medien weiter verschärft, nun unter dem Deckmantel der Bekämpfung von Fake News.
REWI: Wie kann die drohende Demokratie-Krise abgewendet werden?
Florian Bieber: Einige Regeln sind wichtig. Erstens die Verhältnismäßigkeit – ist beispielsweise der Einsatz des Militärs gerechtfertigt bei der Durchsetzung von Ausgangsbeschränkungen? Dann muss die Dauer dieser Maßnahmen deutlich beschränkt sein. Drittens ist die Einbeziehung demokratischer Institutionen wichtig – insbesondere der Parlamente. Parlamente können, wie es gerade in Österreich sichtbar geworden ist, in der Krise durchaus funktionieren und ermöglichen auch eine kritische Debatte. Viertens braucht es Transparenz. Und auch Kritik und breit geführte Diskussionen müssen möglich sein. Zuletzt müssen liberale, d.h. gefestigte Demokratien ein Vorbild sein, um nicht als Ausrede für jene Herrschenden zu dienen, die die Gelegenheit nutzen, weitere Macht langfristig an sich zu reißen.
REWI: Neben autoritären Tendenzen scheint die Corona-Krise auch Nationalismus zu beflügeln? Ist das der Fall?
Florian Bieber: Zu Beginn der Krise verkündete Nigel Farage, der britische Politiker und Fürsprecher des Brexits, großmundig, dass wir nun alle Nationalisten seien. Die Grenzschließungen und auch ein gewisser nationalstaatlicher Egoismus schienen dies zunächst zu bestätigen, doch es ist zu einfach gedacht. Die Krise hat die Rolle von Nationalstaaten gestärkt, die die Herausforderungen der Pandemie bewältigen müssen, während die EU kaum Kompetenzen hat, um eine zentrale Rolle zu spielen. Trotzdem erinnern die Grenzschließungen Menschen auch in wohlhabenden Ländern erstmals seit Generationen, was es bedeutet, im eigenen Staat eingeschlossen zu sein. Die erzwungene De-Globalisierung schafft jedoch keine Unterstützung für einen Rückzug in die Nationalstaatlichkeit, sondern verdeutlicht die Notwendigkeit internationaler Zusammenarbeit. Natürlich werden größere Staaten möglicherweise schauen, in Zukunft die Abhängigkeiten zu reduzieren, doch dies bedeutet kaum, dass die Welt der Globalisierung langfristig den Rücken kehren wird. Die Pandemie droht jedoch zunächst einmal, Vorurteile zu verstärken. Nicht nur in den USA ist es seit dem Ausbruch der Krankheit zu einem massiven Zuwachs an Diskriminierung gegen die asiatisch-stämmige Bevölkerung gekommen. Auch andere Minderheiten, wie Roma, wurden in den vergangenen Wochen immer wieder offen als Krankheitsüberträger angegriffen. Bereits bestehende nationalistische Tendenzen wurden durch die Pandemie verstärkt bzw. finden eine neue Rechtfertigung.
In der EU wird fehlende bzw. unzureichende Unterstützung gerade im schwer getroffenen Italien als mangelnde Solidarität interpretiert. Dies hat dazu geführt, dass zumindest zeitweise die Euroskepsis in Italien stark gestiegen ist. Zugleich haben rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien gerade in Europa ihr Thema verloren und in zahlreichen Umfragen sind diese Parteien geschwächt. Es gibt also kein einheitliches Bild, aber gerade die wirtschaftliche und soziale Unsicherheit, die aus der Krise folgen wird, zumindest in einigen Ländern, wird sicherlich die Suche nach Sündenböcken anheizen.