(Interview geführt am 18. Mai 2020)
REWI: Gibt es im österreichischen Zivilprozessrecht Änderungen, die durch die Corona-Pandemie bedingt sind?
Thomas Garber: Der österreichische Gesetzgeber hat mit den COVID-19-Justizbegleitgesetzen umfangreiche Änderungen des Zivilprozesses vorgesehen. Dadurch sollte ein einheitliches Vorgehen der Gerichte im gesamten Bundesgebiet gewährleistet werden. Auch für die Gerichte galt das allgemeine Ziel, die Übertragungs- und Infektionsgefahr einzudämmen. Auf der anderen Seite musste der Gerichtsbetrieb in einem Mindestmaß aufrechterhalten werden.
Matthias Neumayr: Die neuen Regelungen waren erforderlich, weil die ZPO bis zur Corona-Pandemie nur wenige Bestimmungen enthielt, die den Folgen einer Pandemie Rechnung trugen. So ermöglicht die ZPO bei unvorhergesehenen oder unabwendbaren Ereignissen in bestimmten Fällen eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Naturkatastrophen und andere Fälle der höheren Gewalt stellen solche unabwendbaren Ereignisse dar. Aufgrund der pandemischen Verbreitung und der damit einhergehenden Gefahr einer sogar letalen Erkrankung ist COVID-19 als Fall höherer Gewalt zu qualifizieren. Würde es nur die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entsprechend den früheren gesetzlichen Regeln geben, wären zahllose Wiedereinsetzungsanträge zu erwarten gewesen, die jeweils im Einzelfall bearbeitet werden hätten müssen. Der Gesetzgeber entschied sich für eine Art genereller Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
REWI: Wie wurde diese generelle Wiedereinsetzung in den vorigen Stand geschaffen?
Matthias Neumayr: Der Gesetzgeber hat die Unterbrechung von verfahrensrechtlichen Fristen angeordnet. Alle verfahrensrechtlichen Fristen wurden bis zum 30.4.2020 unterbrochen, wenn entweder das fristauslösende Ereignis (zB die Zustellung) in die Zeit nach 22.3.2020 fällt oder die Frist am 22.3.2020 noch nicht abgelaufen ist. Die Unterbrechung der Frist galt etwa für die Erstattung einer Klagebeantwortung und das Einbringen eines Rechtsmittels. Bestimmte Verfahren waren von der Fristunterbrechung ausgenommen, etwa Verfahren, in denen das Gericht über die Rechtmäßigkeit eines aufrechten Freiheitsentzuges nach dem UbG oder dem HeimAufG zu entscheiden hatte. Außerdem waren Leistungsfristen ausdrücklich von der Fristunterbrechung ausgenommen.
Thomas Garber: Darüber hinaus hatten die Gerichte die Möglichkeit, mit Beschluss auszusprechen, dass eine Frist für ein konkretes Verfahren nicht bis zum 30.4.2020 unterbrochen, sondern das Verfahren fortgeführt wird. Die Voraussetzungen dafür waren aber sehr streng ausgestaltet: Ein solcher Beschluss setzte voraus, dass nach sorgfältiger Abwägung aller Umstände die Fortsetzung des Verfahrens zur Abwendung einer Gefahr für Leib und Leben, Sicherheit und Freiheit oder zur Abwehr eines erheblichen und unwiederbringlichen Schadens einer Verfahrenspartei dringend geboten ist. Darüber hinaus durfte das Interesse der Allgemeinheit an der Verhütung und Bekämpfung der Verbreitung von COVID-19 sowie der Schutz der Aufrechterhaltung eines geordneten Gerichtsbetriebes die Einzelinteressen nicht überwiegen, um das Verfahren fortzuführen. Die Beurteilung der Frage, welche Verfahren bzw Verfahrensschritte zur Abwendung einer Gefahr für Leib und Leben, Sicherheit und Freiheit oder zur Abwehr eines erheblichen und unwiederbringlichen Schadens einer Verfahrenspartei dringend geboten sein können, hatte nach den Umständen des Einzelfalls zu erfolgen. In der Regel können als besonders dringliche Verfahren etwa Verfahren, die zur Abwendung einer akuten Gefährdung des Kindeswohls dringend erforderlich sind, oder Verfahren betreffend den Unterhalt, soweit die Gewährung des Unterhalts zur Existenzsicherung des Unterhaltsberechtigten notwendig ist, qualifiziert werden.
REWI: Wie sieht es bei der Durchführung von mündlichen Verhandlungen aus?
Thomas Garber: Die Bundesministerin für Justiz hatte bereits am 13.3.2020 einen Einführungserlass zum Umgang mit der Corona-Pandemie veröffentlicht. Die Gerichte wurden „zur Umsicht“ bei der Anberaumung von Verhandlungsterminen ersucht. In Zivilsachen sollten mündliche Verhandlungen nur abgehalten werden, soweit es zur Aufrechterhaltung einer geordneten Rechtspflege unbedingt erforderlich war. Das zuständige Entscheidungsorgan sollte für den jeweiligen Einzelfall prüfen, ob ein Verhandlungstermin abgehalten wird und welche begleitenden Maßnahmen getroffen werden. Beispielhaft wird der Ausschluss der Öffentlichkeit angeführt, was in Österreich allerdings nicht so leicht möglich ist. Im 1. COVID-19-Justizbegleitgesetz wurde dann vorgesehen, dass Anhörungen und mündliche Verhandlungen nur im Ausnahmefall abzuhalten waren. Sie sollten für den Zeitraum der generellen Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 nur in Fällen abgehalten werden, in denen dies zur Aufrechterhaltung einer geordneten Rechtspflege unbedingt erforderlich war. War die Vornahme einer Anhörung einer Partei oder die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unbedingt erforderlich, so konnte sie auch ohne persönliche Anwesenheit aller Beteiligten unter Verwendung geeigneter technischer Kommunikationsmittel vorgenommen bzw durchgeführt werden. Das Gericht sollte etwa eine Videokonferenz via PC, Laptop oder Smartphone durchführen. Nach den Gesetzesmaterialien sollte aufgrund der „Ausnahmesituation“ und der Tatsache, dass auf die Mittel der Videoübertragung nicht immer und überall zugegriffen werden kann, ausnahmsweise auch eine Telefonkonferenz oder Anhörung via Telefon möglich sein.
Matthias Neumayr: Am 28.4.2020 hat der österreichische Nationalrat zahlreiche weitere Gesetze beschlossen, die Maßnahmen zur Bewältigung der COVID-19-Krise vorsehen, darunter Bestimmungen zur Durchführung von mündlichen Verhandlungen. Gleichzeitig wurde ein Ende des Verhandlungsstopps angeordnet. Mündliche Verhandlungen sollen nun grundsätzlich in den Räumlichkeiten des Gerichts durchgeführt werden, die so adaptiert werden müssen, dass die Maßnahmen zum Schutz vor Ansteckungen eingehalten werden können – zum Beispiel durch den Einsatz von Plexiglas. Die Neufassung ermöglicht es, Anhörungen, mündliche Verhandlungen und Beweisaufnahmen bis 31.12.2020 unter bestimmten Voraussetzungen ohne physische Anwesenheit über geeignete technische Kommunikationsmittel zur Ton- und Bildübertragung durchzuführen. Die Regelung war erforderlich, weil die ZPO nur die Möglichkeit vorsieht, Zeugen, Parteien und Sachverständige statt im Rechtshilfeweg im Wege der Videokonferenz einzuvernehmen; nicht aber die gesamte Verhandlung über geeignete technische Kommunikationsmittel zur Ton- und Bildübertragung durchzuführen.
REWI: Müssen die Parteien zustimmen, wenn eine mündliche Verhandlung per Videokonferenz durchgeführt werden soll?
Matthias Neumayr: Die Durchführung von mündlichen Verhandlungen und Anhörungen per Videokonferenz ist möglich, wenn das Einverständnis der Parteien vorliegt. Wenn sich die Parteien innerhalb einer Frist, die vom Gericht festgesetzt wird, nicht dagegen aussprechen, gilt das Einverständnis als erteilt. Anhörungen und mündliche Verhandlungen in Erwachsenenschutz‑, Unterbringungs- und Heimaufenthaltssachen, die vor Ort stattfinden müssten, können auch ohne Einverständnis der Parteien im Weg der Videokonferenz durchgeführt werden.
Verfahrensbeteiligte, Zeugen, Sachverständige oder Dolmetscher können die Teilnahme an einer Verhandlung per Videokonferenz verlangen, wenn sie eine erhöhte Gesundheitsgefährdung durch COVID-19 für sich oder für Personen bescheinigen, mit denen sie in notwendigem privaten oder beruflichen Kontakt stehen. Der Gesetzgeber berücksichtigt auch, dass Parteien und Zeugen möglicherweise nicht die technischen Mittel für eine Videokonferenz zur Verfügung stehen. In diesem Fall können unvertretene Parteien die Vertagung der Verhandlung und vertretene Parteien oder Zeugen die vorläufige Abstandnahme von der Vernehmung verlangen.
REWI: Herr Professor Neumayr, Sie sind auch Vizepräsident des OGH. Hat sich bei den Beratungen und Abstimmungen im Senat etwas verändert?
Matthias Neumayr: Ja, durchaus. Um einen unmittelbaren persönlichen Kontakt zwischen den Senatsmitgliedern und damit eine potentielle Infektions- bzw Übertragungsgefahr zu verhindern, sah bereits das 1. COVID-19-Justizbegleitgesetz in der Senatsgerichtsbarkeit die Beratung und Abstimmung im Umlaufweg vor. Auf Antrag auch nur eines Senatsmitglieds ist allerdings eine Senatssitzung anzusetzen. Das ist in meinem Senat auch in einzelnen Fällen geschehen. Nicht geregelt wurde die Möglichkeit der Beratung und Abstimmung im Wege der Videokonferenz; sie wurde und wird allerdings allgemein für zulässig gehalten.
REWI: Man hat es bei der Paketzustellung selbst vielleicht schon bemerkt, dass es bei den Zustellungen Änderungen gibt. Gilt das für das Zustellrecht im Allgemeinen?
Thomas Garber: Im ZustellG wurden zustellrechtliche Begleitmaßnahmen normiert, um die Zustellung zu vereinfachen und den unmittelbaren Kontakt zwischen Zusteller und Empfänger zu verhindern bzw zu minimieren. Die neuen Normen erleichtern den Eintritt der Zustellungswirkung: Es muss nicht mehr der persönliche Kontakt mit dem Empfänger gesucht werden. Das Dokument gilt als zugestellt, wenn es in die für die Abgabestelle bestimmte Abgabeeinrichtung wie etwa Briefkasten, Hausbrieffach oder Briefeinwurf eingelegt oder an der Abgabestelle – etwa an Wohnungs-, Haus- oder Gartentür – zurückgelassen wird; die Zustellung gilt in diesem Zeitpunkt als bewirkt. Der Empfänger ist, soweit dies ohne Gefährdung der Gesundheit des Zustellers möglich ist, durch schriftliche, mündliche oder telefonische Mitteilung an ihn selbst oder an Personen, von denen angenommen werden kann, dass sie mit dem Empfänger in Verbindung treten können, von der Zustellung zu verständigen. Eine schriftliche Verständigung kann zB an der Eingangstüre (Wohnungs-, Haus-, Gartentüre) angebracht werden. Eine mündliche Verständigung kann zB über eine allfällige Gegensprechanlage oder durch die Wohnungstüre erfolgen oder indem der Zusteller die Person unmittelbar persönlich informiert, wobei entsprechender Abstand zur betreffenden Person eingehalten werden soll.
REWI: Wie bewerten Sie die durch die Corona-Pandemie bedingten Änderungen?
Matthias Neumayr: Man kann durchaus an einzelnen Regelungen Kritik üben. Insgesamt erscheinen mir aber die Änderungen, die das Zivilverfahrensrecht betreffen, durchaus sinnvoll: Sie sind ein Kompromiss. Auf der einen Seite muss auch in einer Krisensituation das Funktionieren des Rechtsstaates gewährleistet sein; gleichzeitig muss auf der anderen Seite die Infektions- und Übertragungsgefahr eingedämmt werden.
Thomas Garber: Die meisten Regelungen gelten längstens bis 30.12.2020; die vereinfachte Zustellung ist nur bis 30.6.2020 möglich. Es ist zu hoffen, dass der Zivilprozess dann ohne die krisenbedingten Einschränkungen durchgeführt werden kann.