(Interview geführt am 19. Juni 2020)
REWI: Big Data wird oft in Verbindung mit dem Kampf gegen das Corona-Virus angeführt. Wie kann uns Big Data dabei helfen?
Viktor Mayer-Schönberger: Im Kampf gegen das Corona-Virus gibt es drei Bereiche, für die Daten zu sammeln und daraus zu lernen sehr hilfreich sein kann. Erstens im Verstehen der Verbreitung: Gerade nach dem Ende des Lockdowns und der Öffnung des gesellschaftlichen Lebens ist es wichtig zu verstehen, ob und wo sich das Virus wieder verbreitet. Das erlaubt, sehr gezielte Maßnahmen zu ergreifen und nicht wieder zum stumpfen Schwert des Lockdowns greifen zu müssen. Zweitens geht es um die Entwicklung eines Impfstoffes. Hier sind Big Data und Künstliche Intelligenz (KI) extrem hilfreich, die Zeit für die Entwicklung zu verkürzen. Dank dieser Technologien konnte der erste Impfstoffkandidat nur 72 Stunden nach Vorliegen der Geninformationen des Virus entwickelt werden. Und im Zug der Testphase hilft die Datenanalyse möglichst gut, die Effektivität eines Impfstoffkandidaten zu verstehen. Drittens brauchen wir bessere Medikamente. Da auch dafür lange Zulassungszeiträume notwendig sind, ist es sinnvoll auf schon bekannte Substanzen zurückzugreifen. Deshalb suchen Forscher_innen in großen Datenbanken bekannter Substanzen nach passenden Stoffen – ebenfalls mit Hilfe von KI; und durchpflügen wissenschaftliche Arbeiten (davon gibt es nur zu Corona-Viren zehntausende!), ebenfalls mit Hilfe von Big Data und KI.
REWI: Wenn man von „Big Data“ spricht, was versteht man darunter eigentlich genau? Wo kommen diese Daten her?
Viktor Mayer-Schönberger: Big Data ist nichts anderes als aus einer großen Menge an Daten Einsichten zu gewinnen, die sich aus einer kleinen Menge an Daten nicht gewinnen lassen würden. Diese Daten können aus unterschiedlichen Quellen stammen. Wichtig ist, dass die Daten ein bestimmtes Phänomen beschreiben, das wir dann – hoffentlich – durch die Daten besser verstehen.
REWI: Man hat gelesen, dass Amazon, Google oder private Internetdienste wie NSO den Staaten ihre Hilfe in der Corona-Krise anbieten. Wie können diese den Staaten helfen?
Viktor Mayer-Schönberger: Gerade am Anfang der Pandemie war es wichtig zu wissen, wo das Virus sich gerade am schnellsten verbreitet. Damals gab es noch keine Tests, sodass die beste Näherung an die Verbreitung die Mobilität der Bevölkerung war. Und da viele von uns Mobiltelefone mitführen, die sich jeweils bei Mobilstationen melden, hatten die Mobiltelefonanbieter Daten zur Verfügung, aus denen sich auf die Mobilität rückschließen lässt. Genau das trifft auch auf Nutzer_innen von Navigationssystemen auf Smartphones (z.B. Google Maps) zu.
REWI: Werden wir durch die von uns hinterlassenen Datenspuren völlig gläsern oder sind wir es gar schon?
Viktor Mayer-Schönberger: Das Datenschutzproblem wird in Praxis oftmals verkannt. Auf der einen Seite fürchten wir uns vor Daten, die anonym gesammelt wurden oder später weitgehend anonymisiert wurden und aus denen sich keine oder kaum Rückschlüsse auf uns selbst gewinnen lassen. Und auf der anderen Seite geben wir ohne großes Zögern viele Informationen freiwillig online preis.
REWI: Wie kann man sich davor schützen, dass eigene Daten in die große Datenmasse kommen?
Viktor Mayer-Schönberger: Gegenfrage: Wollen wir uns dagegen immer schützen, insbesondere wenn ich im Gegenzug zu meinen Daten bessere Suchergebnisse bekomme, eine bessere Navigationsdienstleistung oder ein besseres Medikament gegen das Corona-Virus? Und: Ist die und der Einzelne die optimale Instanz für diesen Schutz (gerade weil die Zusammenhänge bei der Datennutzung so komplex sind und viele Menschen sehr impulsiv entscheiden, wem sie welche Daten mitteilen)?
REWI: Haben Sie in der Zeit der Pandemie Beobachtungen gemacht, die Sie mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt haben; die Sie vielleicht sogar überrascht haben?
Viktor Mayer-Schönberger: Ja. Ich denke uns allen ist klar geworden, dass unser Leben nur durch digitale Information und Kommunikation während der Pandemie aufrechterhalten werden konnte. Und dass wir uns dafür der großen Internetplattformen bedienen mussten. Denn die funktionierten ziemlich klaglos. Im Gegensatz zu vielen Start-ups und Initiativen, deren vollmundige Versprechen nicht praxistauglich waren. Das war gut in der Situation, erhöht aber auch unsere Abhängigkeit. Und macht mir deshalb Sorgen.
REWI: Können wir aus der Corona-Pandemie für den Umgang bzw. das Verständnis von Big Data etwas mitnehmen?
Viktor Mayer-Schönberger: Ja. Eine Datennutzung, um daraus bessere Entscheidungen zu treffen, ist vielfach alternativlos.