Anfang 2025 gaben im Rahmen einer Eurobarometer-Umfrage nur 41 Prozent der befragten Österreicher:innen an, ein insgesamt positives Bild von der EU zu haben. 38 Prozent bewerteten die Union weder positiv noch negativ, 21 Prozent sahen sie negativ. Vor über 31 Jahren, am 12. Juni 1994, hatten sich in einer Volksabstimmung in Österreich zwei Drittel der Teilnehmenden für den Beitritt ausgesprochen. Warum hat sich der Blick auf die Europäische Union derart verändert?
Anita Ziegerhofer: Vor dem EU-Beitritt Österreichs am 1. Jänner 1995 hat die damalige Regierungskoalition aus SPÖ und ÖVP ein gemeinsames „euphorisches“ Narrativ geschaffen: gemeinsam in die Europäische Union. Die Stimmung im Land war sehr positiv, und der Beitritt wurde zwar nicht von allen, aber doch mehrheitlich bejubelt. Bald danach wich diese Euphorie dem politischen Alltag. Wirtschaftlich hat Österreich auf jeden Fall stark gewonnen, gesellschaftspolitisch betrachtet, haben wir aber nicht gelernt – oder es verabsäumt –, europäisch zu denken.
Was meinen Sie damit?
Ziegerhofer: Wer ist denn die Europäische Union? Es sind die 27 Mitgliedsstaaten, die die EU bilden und deren Regierungen eine gemeinsame europäische Politik machen sollten. Aber nach wie vor sehen sich Politiker:innen als Vertreter:innen ihres eigenen Landes. Sie geben sich in Brüssel wohl europäisch, wenn sie aber wieder in ihr Land zurückkommen, sind sie in erster Linie wieder „Nationalpolitiker:innen“. Es wäre wünschenswert, nicht nur an das eigene Land und daran zu denken, aus der EU möglichst viel herauszuholen. Alle Mitgliedsstaaten sollten an einem gemeinsamen Strang ziehen, dies müsste die Politik vorleben. Bisher geschieht das nur, wenn überhaupt, im Zusammenhang mit Krisen.
Warum denken wir nicht europäisch?
Ziegerhofer: Durch die mannigfachen Krisen fühlen sich viele Menschen bedroht: Viele flüchten in Verschwörungstheorien, die vor allem über Social Media verbreitet werden – dies ist ein Hebel, der die Gesellschaft wirklich spaltet. Wenn es Missstände gibt, sucht man Schuldige. Und das sind dann „die in Brüssel“, die weit weg sind und angeblich keine Ahnung von der Situation im Land haben. Der Rechtspopulismus befördert dieses Bild. Er ist eine große Bedrohung für die Europäische Union. Viele Österreicher:innen sehen die EU sehr kritisch, ich glaube aber nicht, dass ein „Öxit“ eine Mehrheit bekommen würde.
Wie könnte man ungerechtfertigte Vorstellungen von der EU zurechtrücken?
Ziegerhofer: Wir brauchen ein positiv-kritisches Narrativ über die Europäische Union. Die Menschen in Österreich haben in vielerlei Hinsicht vom EU-Beitritt profitiert. Etwa durch die Möglichkeit, in vielen Berufen überall in Europa arbeiten zu können. Auch das Reisen in der EU ist einfacher geworden und die Vielfalt der Waren in den Supermärkten bedeutend größer. Österreich, insbesondere die Steiermark, konnte sich durch Förderungen von Forschung und Innovationen im Rahmen europäischer Projekte international viel stärker positionieren. An den Universitäten haben sich neue Möglichkeiten des länderübergreifenden Austausches und der Zusammenarbeit aufgetan, etwa durch das Bildungsprogramm Erasmus und EU-Forschungsförderung. Durch die Einführung des ECTS-Punkte-Systems bei den Studien und eines einheitlichen Bachelor-Master-Doktor-Systems wurde ein gemeinsamer europäischer Hochschulraum geschaffen.
Warum gibt es bei alledem kein positives Narrativ über die EU?
Ziegerhofer: Ich glaube, die jungen Menschen denken gar nicht viel über die Europäische Union nach. Sie sind mit den Vorteilen aufgewachsen. Und die Älteren tendieren gerne zur Ansicht, dass früher alles besser war. Medien berichten vorzugsweise über negative Aufreger wie die „Gurkenkrümmung“ oder die „Glühbirnenverordnung“ statt über Erfolge der EU. Sie könnten – wie auch Bildungsarbeit in den Schulen, an den Universitäten und Erwachsenenbildung – viel dazu beitragen, das Bild von der Union zu korrigieren. Wichtig ist mir, dass man offen über die EU, über ihre Stärken und Schwächen spricht. Suchen wir das Gespräch mit ihren Kritiker:innen, hören wir ihnen zu und reden wir auch darüber, was wäre, wenn wir nicht bei der EU wären!
Was braucht die Europäische Union, damit sie eine Zukunft hat?
Ziegerhofer: Ich bin überzeugt, dass die EU eine Zukunft hat, aber sie wird sich den geopolitischen Veränderungen anpassen müssen. Wenn ich in der Geschichte zurückblicke, war die Idee Europa immer dann populär, wenn es von außen eine Bedrohung gab. Das war auch eine Triebfeder des europäischen Integrationsprozesses ab 1950. Die EU muss viel selbstbewusster gegenüber den USA oder China auftreten. Aber klar ist auch, dass sie nur so stark sein kann, wie ihre Mitglieder es zulassen. Ich wünsche mir, dass die EU aus all den Krisen gestärkt hervortritt und in der sich neuformierenden Weltordnung ein gleichwertiger Player sein wird.
Rechtshistorischer Dialog „30 Jahre EU-Mitgliedschaft Österreichs“
6. Oktober 2025, 18:00–20:00 Uhr
Universität Graz, RESOWI, Universitätsstraße 15, Bauteil A, 2. OG, SZ 15.21