Kommt der Krieg wieder nach Europa zurück? Der Konflikt zwischen Russland und Ukraine verschärft sich stündlich. Das Säbelrasseln wird auf allen Seiten lauter. Gibt es noch einen Ausweg? „Den gibt es immer“, meint Benedikt Harzl, Wissenschafter am Zentrum für osteuropäisches Recht sowie am Institut für Völkerrecht und Internationale Beziehungen der Universität Graz: „Es muss jedem Entscheidungsträger in Moskau und Washington klar sein, dass internationale Politik immer kompromissgeleitet sein muss.“
Zur Vorgeschichte des Konflikts gibt es zahlreiche Erklärungen: Russland will der NATO-Erweiterung Einhalt gebieten und hat laut vieler Kommentatoren unannehmbare Bedingungen diktiert. Vladimir Putin wolle außerdem von inneren Problemen ablenken und ist vom Cäsarenwahn gezeichnet. Welche weiteren Motive sehen Sie für den Konflikt?
Benedikt Harzl: Cäsarenwahn spricht für einen irrational, vielleicht verzweifelt handelnden Akteur. Dafür ist Putin allerdings nicht bekannt. In den faktisch zwei Jahrzehnten seiner Amtszeit hat er sich immer als eiskalt agierender und politisch gewiefter Taktiker erwiesen. Allerdings tritt Russland in diesem Konflikt besonders kampfeslustig und für die unmittelbare Nachbarschaft bedrohend auf. Tatsächlich wird – im Übrigen seit Jelzin – die Osterweiterung der NATO sowie die Bewegung strategischer Waffensysteme in die geografische Peripherie, die Russland als Einflusssphäre sieht, als existenzielle Bedrohung in Moskau wahrgenommen. So wäre die Ablenkung von inneren Problemen, deren es genügend gibt, nur ein sekundäres Motiv, zumal auch eine konstante Mehrheit der russischen Bevölkerung diese Außenpolitik unterstützt.
Gibt es noch einen Ausweg oder ist der Karren verfahren?
Harzl: Auswege gibt es immer. Die Entscheidung zum Krieg ist letztlich immer eine bewusste, auch wenn Staaten beziehungsweise Großmächte – wie es Christopher Clark in seinem Opus Magnum dargestellt hat – in schlafwandelnder Form in eine Weltkatastrophe schlittern können. Es muss jedem Entscheidungsträger in Moskau und Washington daher klar sein, dass es auch in der internationalen Politik Begrenzungen gibt und internationale Politik daher immer kompromissgeleitet sein muss. Es führt unweigerlich zum Drama, wenn politische beziehungsweise vielleicht auch ideologisch begründete Maximalziele mit objektiven Begrenzungen in einem Missverhältnis stehen. Die Neutralität der Staaten zwischen Russland und der NATO könnte den Konflikt militärisch entschärfen und dabei die Unabhängigkeit dieser Staaten wahren. Dass dafür politisch geworben wird, sehe ich aber nicht. Was mir besonders Sorgen macht, ist die Einfachheit, mit der sowohl im Westen wie auch in Russland über die Möglichkeit eines Krieges gesprochen wird.
Ist eine militärische Auseinandersetzung nicht schon vorprogrammiert und der diplomatische Marathon ohnehin nur mehr ein Feigenblatt?
Harzl: In der Tat hat sich Putin mit seinen scharf formulierten Ultimaten in eine Position manövriert, welcher er nur dann ohne Gesichtsverlust entkommt, wenn die NATO beziehungsweise die USA seinen Forderungen nachgeben. Das dürfte einigermaßen schwierig werden, da auch der Westen an einem Gesichtsverlust, das heißt der internationalen Bezweiflung seiner Glaubwürdigkeit nicht interessiert ist. Aber das hat ja Putin wissen müssen. Daher stellt sich die Frage, ob er ohnehin von Anfang an auf Konfrontation aus war. Dennoch erweist sich das 2008 von der NATO gegebene Beitrittsversprechen an die Ukraine und Georgien in diesem Kontext als zentrales Problem. Die NATO will davon partout nicht abweichen – vor allem aus Glaubwürdigkeitsgründen. Die bittere Ironie dabei: Die meisten Staaten der NATO wollen gar nicht, dass die Ukraine oder Georgien beitreten, und sehen zunehmend eine theoretische Mitgliedschaft dieser Staaten als enorme sicherheitspolitische Hypothek.
Kommt der Krieg nach Europa zurück?
Harzl: Es ist leider anzunehmen, dass Russland in irgendeiner Form – und damit meine ich ausdrücklich auch militärisch – auf die Nichtbeantwortung der Ultimaten reagieren wird. Welche konkrete Form dies annehmen wird, ist aber nicht abzusehen. Jedoch: Eine vollständige Invasion und militärische Besetzung der Ukraine halte ich für unwahrscheinlich. Dagegen sprechen einige Fakten: So ist die ukrainische Armee auch im Jahr 2022 den russischen Streitkräften nicht gewachsen, doch ist sie heute im Gegensatz zu 2014 in der Lage, der russischen Armee gehörige Verluste zuzufügen. Ferner kann sich Putin der Loyalität selbst der ostukrainischen Bevölkerung im Gegensatz zum Krim-Szenario 2014 nicht sicher sein und schließlich wäre eine Besetzung der Ukraine mit gehörigen finanziellen Verpflichtungen verbunden, die Russland nicht auf sich nehmen will. Zu sehr ist dafür auch noch das Afghanistan-Fiasko der UdSSR im kollektiven Bewusstsein. Dies alles bedeutet jedoch nicht, dass andere Eskalationsformen unter der Ebene einer Invasion auszuschließen sind. Dazu zählen Cyberattacken, die Herstellung einer „Landbrücke“ zwischen der Krim und Russland, die Anerkennung der separatistischen und von Russland unterstützten Volksrepubliken im Osten der Ukraine und andere Maßnahmen. Faktum ist: Wir wissen nicht, welche Eskalationsmethode der Kreml am Radar hat, was dem Konflikt eine zusätzliche Schärfe verleiht.
Wie sehr könnte sich eine kriegerische Auseinandersetzung auf Europa und Österreich auswirken?
Harzl: Sollte Russland eskalieren sind signifikante Gegenmaßnahmen von Seiten der EU beziehungsweise der USA zu erwarten. Und selbige können auch die EU und damit Österreich in Rückkoppelung betreffen. Im Raum steht hierbei ein schon lange angedrohter Ausschluss Russlands aus dem internationalen SWIFT-Zahlungssystem, der sich für uns ob unserer Energieabhängigkeit aus Russland als Blindflug beziehunsgweise gar als Bumerang erweisen könnte.