Prognosen sind schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen. Die Urheber*innenschaft dieses Bonmots mag umstritten sein, sein Wahrheitsgehalt ist es freilich nicht. Besonders heikel sind Prognosen, wenn sie in strafrechtlichen Verfahren wichtige Rollen spielen. Mag.a Dr.in Nina Kaiser und Mag.a Ida Leibetseder, BSc erforschen unter dem Titel "Intuition im Strafverfahren? Über die Interdisziplinarität der Beweggründe in der spezialpräventiven Entscheidungspraxis - Analyse und Synthese" seit knapp einem Jahr, welche Beweggründe in Prognosen im Rahmen der Straffindung einfließen. Das Projekt wird im Rahmen der UFO-Schiene für unkonventionelle Forschung des Landes Steiermark gefördert und läuft noch bis September 2023. Untenstehend bieten die Forschenden einen Einblick in ihre Arbeit und präsentieren erste Ergebnisse:
Soll ich einen Regenschirm einpacken? Eine Stornoversicherung abschließen? Unser Leben ist reich an Prognoseentscheidungen, die eine Abwägung einer Vielzahl an Faktoren, die für oder gegen eine Entscheidung sprechen, erfordern. Auch das moderne Strafrechtssystem muss sich solchen Herausforderungen stellen, wie etwa zur Frage nach der Rückfallswahrscheinlichkeit eines Täters und geeigneten Interventionen zur Verhinderung zukünftiger Straftaten. Das Gesetz gibt den Gerichten hierzu einen Weg vor. Welche Faktoren fließen nun aber bei diesen Entscheidungen tatsächlich mit ein? Das Projekt hat sich zum Ziel gesetzt, das Begründungsverhalten von Richter*innen und Staatsanwält*innen quantitativ durch Fragebögen, sowie qualitativ durch Interviews und durch Aktenanalyse zu erheben und dabei jene Faktoren zu extrahieren, die am Entscheidungsprozess teilhaben. Zu diesem Zweck fanden im Zeitraum zwischen Jänner 2023 und Juli 2023 entsprechende Erhebungen statt. Die aus dieser Studie resultierenden Daten liefern Erklärungspotenzial für eine Vielzahl an Fragestellungen im Bereich der spezialpräventiven Entscheidungspraxis wie etwa
- Schlussfolgerungen hinsichtlich der Häufigkeit der Heranziehung einzelner Beweggründe in der Praxis und deren Abhängigkeit von den einzelnen Sanktionsformen.
- Schlussfolgerungen hinsichtlich der Beweggründe gemeinsam zugrunde liegender Faktoren, wobei die These besteht, dass die miteinander korrelierenden Faktoren auf Inhalte aus ähnlichen Wissensbereichen (Rechtswissenschaft, Kriminologie, Psychologie etc.) basieren, die je nach Sanktionsform eine unterschiedliche Relevanz aufweisen.
- Schlussfolgerungen hinsichtlich einer Gegenüberstellung des Stellenwerts von Vorstrafen mit dem Stellenwert personaler, kontextueller und situativer Faktoren, womit die Eröffnung einer Debatte über eine "veränderungssensitive" spezialpräventiv angemessene Straffindung angestrebt wird.
- Schlussfolgerungen hinsichtlich der Relevanz personenspezifischer Faktoren - wie Menschenkenntnis, Bauchgefühl oder Lebenserfahrung - in der richterlichen Entscheidungspraxis, womit richterliches Entscheiden als spezifische Form menschlichen Verhaltens thematisiert und zugänglich gemacht wird.
Ein vorläufiger Vergleich der Daten aus den Interviews mit den Fragebögen, der sich auf den Stellenwert einzelner Beweggründe in der strafgerichtlichen Entscheidungspraxis bezieht, zeugt von einer Diskrepanz zwischen den theoretisch zum Konzept der Spezialprävention zählenden Aspekten und jenen Faktoren, auf die in der alltäglichen Gerichtspraxis tatsächlich zurückgegriffen wird. Beispielsweise wird im Fall der sozialen Integration, die sich in den Interviews als dritthäufigste Oberkategorie ergeben hat, in der im Fragebogen erhobenen Praxis deutlich am seltensten auf deren Einzelaspekte zurückgegriffen. Statt einer auf die Zukunft gerichteten Perspektive scheint sich vielmehr ein Festschreiben von in der Vergangenheit aufgetretener Umstände (Vorstrafen, Vorverfahren, etc.) etabliert zu haben. Dies wirft die Frage auf, inwieweit eine derart gelebte Praxis dem Konzept von aktuellen, „veränderungssensitiven“ und spezialpräventiv ausgerichteten Sanktionierungen nachkommen kann.