Man hört im Zusammenhang mit dem Ukraine-Russland-Konflikt von einem Bruderkrieg. Wie kommt das?
Bis ins 19. Jahrhundert hat sich im Russischen Reich die Vorstellung gehalten, dass das russische Volk in Großrussen, Kleinrussen – das sind die Ukrainer – und Weißrussen zerfalle. Im 19. Jahrhundert hat sich dann eine nationale ukrainische Identität mit standardisierter Literatursprache herausentwickelt. In der Sowjetzeit ab 1917 wurde die Ukraine dann als eigenständiges Volk definiert. Putin versucht also gleichsam, das Rad der Zeit zurückzudrehen, quasi nach der Losung „Die Ukraine heim ins Reich“.
Als Leiter des Zentrums für osteuropäisches Recht liegen die Ukraine und Russland in Ihrem besonderen Fokus. Welche Beobachtungen haben Sie über die Jahre zu den beiden Ländern gemacht?
Die Ukraine und die Russländische Föderation haben nach 2014 verfassungsrechtlich, aber insbesondere faktisch-politisch eine sehr unterschiedliche Entwicklung gemacht. Da ist wirklich eine Schere aufgegangen. Bei der Ukraine habe ich – bei allen Schwierigkeiten, insbesondere etwa der Korruptionsbekämpfung – den Eindruck, dass hier eine von der politischen Elite breit unterstützte Entwicklung in Richtung Demokratie, Rechtsstaat, Gewaltenteilung, politischer Pluralismus und Einhaltung der Menschenrechte genommen wurde. Russland unter Putin ist stark rückwärtsgerichtet. Die russische Verfassungsreform 2020 ist bestenfalls eine Farce, im schlimmeren Fall – den wir derzeit sehen – eine komplette Abkehr von Demokratie und Hinwendung zu einer autoritären Staatsform.
Wurden nach dem Zerfall der UdSSR die Grenzen der Ukraine auch für die russische Seite eindeutig gezogen? Gab es damals Unstimmigkeiten?
Die Grenzen wurden damals – also 1991 – nach den Grenzen der untergegangenen Sowjetrepubliken bestimmt, es gab also keine territorialen Verschiebungen. Ich kann mich nicht erinnern, dass die damalige russische Staatsführung, insbesondere etwa Präsident Jelzin, Anspruch auf die Krim erhoben hätte. Unter der Oberfläche ist da offensichtlich etwas weitergeschwärt. Putin hat dann die nationalistischen Gefühle in Russland angeheizt und 2014 auf militärischem Weg die Krim handstreichartig eingenommen und hat auch in den östlichsten Gebieten Donezk und Luhansk die separatistischen Bewegungen militärisch massiv unterstützt.
War die Ukraine, wie wir sie heute kennen, vor Sowjetzeiten bereits einmal ein eigener Staat?
Es ist in gewisser Weise ein Treppenwitz, dass die Ukrainer mit gutem Grund für sich reklamieren können, „älter“ als die Russen zu sein. Die Kiewer Rus als erster ostslawischer Staat, die ihre Blütezeit im 10. und 11. Jahrhundert hatte, hatte ihr Zentrum – wie der Name schon sagt – in Kiew. In weiterer Folge waren die Territorien, die heute die Ukraine ausmachten, verschiedenen Fremdherrschaften unterworfen, vor allem dem Russischen Reich, aber auch der Habsburgermonarchie. Von 1917 bis 1920 hat es sodann eine höchst instabile Ukrainische Volksrepublik gegeben. Wirkliche Unabhängigkeit hat die Ukraine erst 1991 erlangt.
Auch persönlich ist Ihr Bezug zur Ukraine stark. Sie arbeiten eng mit der Universität Uzhgorod, von welcher Ihnen letztes Jahr auch die Ehrendoktorwürde verliehen wurde, oder mit der Deutsch-Ukrainischen Juristenvereinigung zusammen. War die Entwicklung einer solchen russischen Bedrohung Thema bei Gesprächen oder einer vertieften Auseinandersetzung?
Ich darf hier mit einer kleinen persönlichen Geschichte antworten. Am 21. Februar 2022, drei Tage vor dem russischen Überfall auf die Ukraine, war Dekan Yaroslav Lazur von der Universität Uzhgorod bei mir am Zentrum für osteuropäisches Recht zu Gast, er war auf der Durchreise nach Turin. Die Universität Uzhgorod plante ihr jährliches großes Symposion für den 28. und 29. April dieses Jahres. Wir haben primär darüber gesprochen, also etwa, dass ich dort eines der Hauptreferate halten und feierlich mein Ehrendoktorat erhalten sollte. Von der Bedrohung durch den Krieg war noch nicht unmittelbar die Rede. Ich selbst bin freilich schon lange von einer kommenden militärischen Aggression Russlands ausgegangen, da war man im Westen naiv. Dass sie freilich so massiv ausfällt, hat auch mich überrascht.
Was bekommen Sie über Ihre Kontakte zur Lage vor Ort mit?
Diese Frage könnte ich Ihnen wohl in einer Woche einlässlicher beantworten. Die Rechtswissenschaftliche Fakultät und das Zentrum für osteuropäisches Recht haben ein Fellowship für eine ukrainische Professorin für Verwaltungsrecht vergeben. Frau Prof. Tetyana Karabin aus Uzhgorod ist bereits auf abenteuerlichem Wege nach Graz gelangt. Sie wird uns berichten können, was im Land wirklich vor sich geht.