REWI Uni Graz: Wo steht die zivilrechtliche Streitbeilegung in puncto Digitalisierungsdruck vor besonders großen Herausforderungen?
Bernhard Sommer: Neuartige Technologien eröffnen sowohl im gesellschaftlichen Alltag als auch für die Beteiligten eines Zivilverfahrens bislang ungekannte Handlungsmöglichkeiten, etwa in Bezug auf die automatisierte Abfrage und Verarbeitung personenbezogener Daten oder den Einsatz künstlicher Intelligenz. Diesbezüglich gilt es, Fehlerpotential zu identifizieren und Lösungsstrategien zu entwickeln. Gleichzeitig ist es wichtig, dass das zivilrechtliche „Konfliktmanagement“ nicht hinter dem Digitalisierungsfortschritt im Wirtschaftsleben zurückbleibt. Hier stellt sich einerseits die Frage, ob durch die Digitalisierung einzelner Verfahrensschritte eine Effizienzsteigerung erzielt werden kann, ohne gleichzeitig die Qualität staatlicher Konfliktlösung zu beeinträchtigen; andererseits gilt es zu klären, inwieweit die Justiz für Verfahrensgegenstände rund um Blockchain-Technologie & Co juristisch „gerüstet“ ist.
Welche Änderungen, die auf den Digitalisierungsdruck zurückzuführen sind, stechen besonders ins Auge?
Christiane Fink: Die (meisten) Änderungen der ZVN (Zivilverfahrensnovelle) 2021 traten mit 1.5.2022 im Zuge der ZVN 2022 in Kraft. Im Mittelpunkt der Reform standen die Verwirklichung der digitalen Verfahrensführung (digitale Aktenführung sowie Akteneinsicht) und die Videoverhandlung. Dadurch soll dem gesellschaftlichen Wandel bzw. dem technologischen Fortschritt Rechnung getragen werden, womit gleichzeitig eine deutliche Effizienzsteigerung der österreichischen Justiz einhergeht.
Bedauerlicherweise konnte die Videoverhandlung aufgrund vieler Unklarheiten sowie der erheblichen Kritik von Seiten der Praxis (noch) nicht ins geltende Recht übertragen werden und wurde in weiterer Folge aus dem Entwurf zur ZVN 2021 gestrichen. Die Bestrebungen, die Videoverhandlung in das Dauerrecht aufzunehmen, bestehen allerdings weiterhin. Denn unseres Erachtens besteht kein Zweifel daran, dass die Videoverhandlung – wohl eher früher als später – ins geltende Recht aufgenommen wird.
Smart Contracts treten immer häufiger in Erscheinung. Was versteht man darunter und worin liegen deren rechtliche Fragestellungen?
Michael Otti: Bei Smart Contracts handelt es sich um Softwarelösungen, die ohne das Eingreifen der Vertragsparteien den automatischen Vollzug von Verträgen unterstützen. Vertragspflichten werden dabei in einen digitalen Code umgewandelt und lösen eine automatische Rechtsfolge aus, sobald die notwendigen faktischen Voraussetzungen erfüllt sind. Auch wenn Pauschalbeurteilungen mit Vorsicht zu genießen sind, zeigt sich, dass einer „privatisierten Vollziehung“ durch Smart Contracts in Österreich durch den bestehenden Besitzschutz und das grundsätzliche Verbot der Eigenmacht recht enge Grenzen gesteckt werden.
Werden Schuldner_innen durch die neuen Möglichkeiten von digitalen Abfragen gläsern?
Bernhard Sommer: Für Gläubiger_innen sind Informationen über die Bonität ihrer Schuldner_innen von entscheidender Bedeutung, um die wirtschaftlichen Erfolgsaussichten bei der Geltendmachung ihrer Ansprüche einschätzen zu können. Digitale Zugriffsmöglichkeiten auf schuldnerische Vermögensdaten können insofern zur Vermeidung aussichtsloser Erkenntnis- und Exekutionsverfahren beitragen. In mehreren EU-Mitgliedstaaten bestehen daher Mechanismen, die Gläubiger_innen die elektronische Abfrage bestimmter Schuldner_innendaten aus staatlich geführten Registern ermöglichen. Einem unkontrollierten Datenabfluss wird hierbei auf unterschiedliche Weise vorgebeugt. Beispielsweise können bei einer Exekutionsdatenabfrage nach österreichischem Recht nur bestimmte Datenkategorien von einem eingeschränkten Personenkreis ermittelt werden. Von „gläsernen Schuldner_innen“ kann daher nicht gesprochen werden.
Nimmt „Legal Tech“ den Jurist_innen die Arbeit ab? Braucht die Juristerei in Zukunft noch Menschen?
Bernhard Sommer: Die vollständige Automatisierung der zivilrechtlichen Streitbeilegung erscheint als unrealistisches – und je nach Standpunkt utopisches oder dystopisches – Szenario. Realen Nutzen kann jedoch der gezielte Einsatz von „Legal Tech“ bringen, der bereits derzeit dazu beiträgt, Rechtsverfolgungsmaßnahmen effizienter zu gestalten bzw. Gerichtsverfahren teilweise gänzlich zu erübrigen. Verhältnismäßig einfache Beispiele bilden etwa Programme zur anwaltlichen Büroorganisation, digitale Rechtsdatenbanken und Online-Portale, die zur Geltendmachung gleichgelagerter Ansprüche oder zur Streitbeilegung dienen. Derzeit im Vordringen begriffen sind Softwarelösungen, die in einfach strukturierten Rechtsgebieten selbstständig eine rechtliche Beurteilung bestimmter Sachverhalte vornehmen können. Inwieweit der Einsatz künstlicher Intelligenz in Zukunft die gerichtliche Entscheidungsfindung prägen wird, ist Gegenstand laufender Diskussion.
Was erwartet die Leser_innen in Ihrer Publikation?
Christiane Fink: 15 Vertreter_innen unterschiedlicher juristischer Fachdisziplinen verschaffen einen vielfältigen Überblick über ausgewählte Fragestellungen, die sich bei der Konfliktlösung in einer zunehmend digitalisierten Gesellschaft stellen. Das Werk beschränkt sich nicht auf eine Darstellung des zivilrechtlichen Status quo: Es analysiert Chancen und Risiken bislang kaum erörterter Problemfelder zu Innovation und Recht und präsentiert mögliche Lösungsansätze. Hierdurch trägt es zum fächerübergreifenden rechtswissenschaftlichen Diskurs bei und bildet gleichzeitig eine übersichtliche Informationsgrundlage für die juristische Praxis.
Arbeiten Sie bereits an neuen Projekten?
Michael Otti: Das vorliegende Sammelwerk und die diesem vorangegangene Tagung sind sowohl bei Vertreter_innen der Rechtswissenschaft als auch bei Praktiker_innen auf großes Interesse gestoßen. Auch seitens der Autor_innen wurde eine Fortsetzung des Formats angeregt. Derzeit evaluieren wir den thematischen Rahmen und die verfügbaren Kapazitäten für ein weiteres Projekt in Kooperation mit dem juristischen Nachwuchs anderer Forschungseinrichtungen.
Mehr zur Publikation „Zukunft der zivilrechtlichen Streitbeilegung“ erfahren Sie hier.